Wind der Gezeiten - Roman
Teer bestrichen, damit sie länger haltbar blieben und alle, die unter ihnen einherschritten, möglichst lange daran erinnerten, was jenen blühte, die gegen das Gesetz verstießen.
Nach einigem Herumfragen fand Duncan die Kneipe, die er suchte. Der Goldene Anker war ein ziemlich heruntergekommenes, von Kohlgestank und Qualm umnebeltes Wirtshaus mit rauchgeschwärzter Fassade. Die Fenster hatten keine Glasscheiben, sondern waren mit aufgespannten Schweinsblasen vernagelt. Als Duncan den Schankraum betrat, trafen ihn von allen Seiten argwöhnische Blicke. Ringsum an den Tischen hockten hauptsächlich Flößer, Fischer und Dockarbeiter, schmutzige und nach Schweiß stinkende Männer, die sofort sahen, dass jemand wie er hier nichts verloren hatte.
Ein ungeschlachter Mann schob sich hinter dem Schanktisch hervor und vollführte einen missglückten Bückling. Geschäft war Geschäft.
» Womit kann ich dienen, Sir? «
» Ich suche eine gewisse Nell. «
» Und wer genau sucht sie? « Das Gesicht des Wirts nahm einen lauernden Ausdruck an.
» Ein Freund ihres Vaters. «
» Der ist seit Monaten unter der Erde. « Der Wirt lachte meckernd. » Genauer: Teile von ihm. Ein anderer Teil steckt drüben beim Südtor auf einer langen Stange. «
Duncan warf ihm ein Silberstück zu.
» Hol sie her. «
Der Wirt katzbuckelte erneut, diesmal mit mehr Verve, und verschwand in einem Hinterzimmer. Kurz darauf kam er mit einem etwa dreizehnjährigen Mädchen zurück, ein dünnes kleines Ding mit feinem Flachshaar.
» Komm mit raus « , sagte Duncan. » Ich habe dir was von deinem Vater auszurichten. Bevor er starb, sprach ich mit ihm. «
Die Augen des Mädchens weiteten sich. Duncan sah die ungeweinten Tränen darin, und ihm entging auch nicht, wie schlecht sie genährt war. Der Wirt gab ihr nicht genug zu essen. Ihre Hände waren rot, die Haut an den Fingern aufgesprungen. Ihre Schürze war nass vom Spülwasser. Es war nicht zu übersehen, dass sie hier weidlich ausgenutzt wurde.
» Ich bin ihr Onkel « , sagte der Wirt wichtigtuerisch. » Was immer Ihr zu sagen habt, könnt Ihr auch gleich hier erzählen. «
Duncan warf dem Mann einen drohenden Blick zu.
» Komm mit raus « , sagte er abermals zu dem Mädchen, und diesmal widersprach der Wirt nicht. Gefolgt von den neugierigen Blicken der übrigen Gäste ging Duncan mit dem Mädchen ins Freie. Er trat zur Seite, weil ein Hütejunge eine Schar laut schnatternder Gänse vorbeitrieb, und gleich darauf musste er einem mit Fässern beladenen Fuhrwerk ausweichen. Das Mädchen hatte sich eng an die Hauswand gedrückt, die dünnen Arme um den Leib geschlungen. Sie war erbärmlich blass und sah krank aus, und Duncan verfluchte sich, weil er nicht schon eher hergekommen war. Nicht dass er seinem ehemaligen Zellengenossen gegenüber im Wort gestanden hätte, denn was sie ausgemacht hatten, war nicht zur Durchführung gelangt– die in Aussicht gestellte Rettung war von gänzlich anderer Seite gekommen als gedacht. Dennoch hatte Duncan nicht vergessen können, wie der Mann über seine Tochter gesprochen hatte. Wie viel Liebe aus diesem ausgemergelten und gequälten Gesicht geleuchtet hatte. Immer wenn er sich der schrecklichen Tage in Newgate entsann, hatte er diesen Ausdruck in Sams Gesicht vor Augen, und aus unerklärlichen Gründen musste er dabei an Faith denken. Seine eigene Tochter war noch ein winziges Menschlein, und doch war seine Liebe zu ihr schon jetzt so allumfassend und gewaltig, dass ein einziger Blick in ihre Augen ausreichte, um die ganze Welt stillstehen zu lassen. Die Liebe zum eigenen Kind, so wusste er mittlerweile, war die mächtigste Antriebskraft auf Erden. Nichts konnte dem je gleichkommen. Der Gedanke an Sam und seine Tochter Nell hatte ihn nicht losgelassen, und so hatte er sich entschlossen, seinen Teil des Handels doch noch zu erfüllen.
» Bevor dein Vater starb, habe ich viel mit ihm geredet, Nell. «
» Was hattet Ihr mit Dad zu schaffen? « Ihre Stimme klang kindlich und verängstigt.
» Ich war wie er zum Tode verurteilt, aber man hat mich begnadigt. Heute bin ich hier, um seinen letzten Wunsch zu erfüllen. « Er zog seine Börse und förderte vier Goldstücke zutage. Als er sie ihr hinhielt, machte sie keine Anstalten, sie zu nehmen. Ihr Blick verriet ihr Misstrauen.
» Was wollt Ihr dafür von mir haben? «
Duncan seufzte und betrachtete mitleidig ihre verschlissene, verdreckte Kleidung und die viel zu großen Holzschuhe, die ersichtlich von
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