Wind der Gezeiten - Roman
wieder zusammenzufalten und zurückzulegen. Ebenso verfuhr sie mit einigen anderen Kleidungsstücken. Sie war so in diese beruhigende Tätigkeit versunken, dass sie aufgeschreckt hochfuhr, als die Tür aufging und Anne hereinschaute.
» Ich hatte geklopft « , sagte sie.
Felicity zuckte nur die Achseln, doch dann bemerkte sie, wie aufgeregt Anne war. Ihre Augen funkelten, und ihre sonst so bleichen Wangen waren gerötet.
» Du wirst nicht glauben, wer geschrieben hat! « , rief sie.
Felicity stemmte sich hoch. Die Narbe tat weh, doch das störte sie nicht.
» Elizabeth? « , fragte sie hoffnungsvoll. Oh bitte, lieber Gott!, dachte sie. Lass Elizabeth geschrieben haben!
» Kapitän Vandemeer! Dein Verlobter Niklas! « Anne schwenkte den Brief hin und her, bevor sie ihn Felicity überreichte, die ihn fassungslos anstarrte. Ihre Hände bebten so sehr, dass sie kaum das Siegel öffnen konnte. Die Buchstaben tanzten vor ihren Augen und wollten sich nicht zusammenfügen– es kam ihr plötzlich so vor, als hätte sie nie lesen gelernt. Tief durchatmend versuchte sie, den Sinn des Geschriebenen zu erfassen, aber es ging nicht. Ihre Hände hörten nicht auf zu zittern.
Anne nahm ihr behutsam den Brief weg.
» Soll ich ihn dir vorlesen? «
Felicity schluckte heftig, dann nickte sie.
Mit ruhiger, fester Stimme begann Anne zu lesen. Mehrmals musste sie neu anfangen, weil Felicity in ihrer Aufregung ständig vergaß, was ein paar Sätze weiter vorn gestanden hatte, und alles noch einmal hören wollte.
Niklas hatte mehrere ihrer Briefe erhalten. Es ging ihm gut! Er war immer noch Kapitän der Eindhoven! Und was das Erstaunlichste war– er befuhr wieder die Westindienroute! Natürlich konnte er Barbados und die anderen englischen Antilleninseln nicht mehr anlaufen, aber dafür Saba, St. Martin und St. Eustatius, wo immer das auch sein mochte. Auf alle Fälle befanden sich diese Inseln im Besitz der Niederlande. Niklas schrieb, es gebe da immer mehr Zuckerrohrplantagen, der Transport von dort werde allmählich sehr lohnend. Und hin und wieder steuere er auch Surinam an, das sei ein neues Land in Südamerika, wo sich viele englische Royalisten niedergelassen hätten, darunter auch frühere Bewohner von Barbados, sogar der ehemalige Gouverneur. Man hatte angefangen, dort Tabak und Zucker anzubauen, aber niemand versuchte, die leidigen Navigationsakte durchzusetzen, zumal derzeit sämtliche englischen Seestreitkräfte durch den Krieg an europäische Gewässer gebunden waren. Das Geschäft, so resümierte Niklas, gehe glänzend, er habe keinen Grund zu klagen– außer darüber, dass Felicity immer noch nicht seine Frau war. Felicity brach in Tränen aus, als Anne diese Stelle vorlas. Danach bekam sie vom Rest kaum noch etwas mit.
Sie presste sich die Handballen gegen die Schläfen, weil die Gedanken wie aufgescheuchte Hummeln in ihrem Kopf herumschwirrten. Völlig aufgelöst marschierte sie kreuz und quer durchs Zimmer, ohne darauf zu achten, dass ihre Narbe durch die ungewohnt heftigen Bewegungen spannte und brannte.
» Lies mir noch mal die Stelle über Amsterdam und Dominica und die Antillen vor! «
» Die kenne ich auswendig. « Anne lächelte. » Du sollst nicht nach Amsterdam kommen, das sei im Augenblick wegen des Krieges für Engländer zu gefährlich. Er schreibt, du sollst mit Duncan nach Dominica zurückkehren und dort auf ihn warten. Er könne sich vorstellen, mit dir auf den Niederländischen Antillen zu leben. «
» Ja, das hat er geschrieben « , sagte Felicity schwach. Sie ließ sich auf der Bettkante nieder, weil ihr plötzlich die Knie wackelten. Anne setzte sich zu ihr und legte den Arm um sie.
» Freust du dich? «
» Natürlich! « Felicity lachte und weinte gleichzeitig. » Ich war in meinem ganzen Leben noch nicht so glücklich! « Die starke Anspannung, unter der sie monatelang gelitten hatte, verwandelte sich in wilde Euphorie. Bald würde sie nicht nur Niklas wiedersehen, sondern auch Elizabeth und die Kinder! Und sie musste sich nicht von Anne trennen! Unbändige Freude erfüllte sie, am liebsten hätte sie laut gejauchzt. Stattdessen sprang sie auf. Sie hatte lange genug herumgetrödelt.
» Was hast du vor? « , wollte Anne wissen.
» Was wohl? « Felicity kniete bereits vor ihrer Reisekiste und wühlte in den Kleidungsstücken, bis alles rettungslos durcheinander war. » Jetzt wird erst einmal gepackt. «
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D ie sinkende Sonne überzog die Umgebung des Herrenhauses mit einem
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