Wind der Gezeiten - Roman
in der Ansiedlung gewesen, mit Fischen und Krabben und einer Menge frischem Obst. Voller Stolz hatten sie am Strand ihre Schätze ausgeladen und mit dem Koch eines portugiesischen Seglers verhandelt. Ein kleiner Ballen Kattun, eine Rolle Seil, eine Handvoll bunte Glasperlen und einige Nägel hatten den Besitzer gewechselt, vor allem aber hatten die Kariben es auf den Rum abgesehen, von dem der Koch ihnen einige kleine Becher voll ausgeschenkt hatte, die sodann an Ort und Stelle genussvoll leer geschlürft wurden. Auch Miss Jane gab den Kariben manchmal im Austausch gegen Waren selbst gebrannten Schnaps.
» Man darf ihnen nur nicht zu viel davon überlassen, sie vertragen es nicht « , hatte sie zu Elizabeth gesagt. » Außerdem– je weniger sie von einer Sache bekommen, umso wertvoller ist es für sie. «
Elizabeth wusste nicht recht, was sie davon halten sollte. Ihrer Ansicht nach schnitten die Indianer bei diesem Handel schlecht ab. Pater Edmond war sogar gänzlich dagegen, den Indianern Alkohol zu geben.
» Das ist so, als würde man Kinder Schnaps trinken lassen « , hatte er Miss Jane getadelt. Doch die Witwe hatte nur auf ihre pragmatische Art die Schultern gehoben und gemeint, jeder müsse hier auf dieser gottverlassenen Insel sehen, wo er bleibe. Edmond hatte zur allseitigen Erleichterung keine seiner üblichen Debatten über den Umgang mit Indianern vom Zaun gebrochen, sondern stattdessen die Gelegenheit genutzt, sich mit den Eingeborenen zu verständigen, was ihm inzwischen besser gelang als zu Anfang. In einer anderen Ansiedlung, die etwa einen halben Tagesmarsch entfernt lag, hatte er die Hinterlassenschaft eines Missionars aufgestöbert, eine Art Wörterbuch, das Begriffe in der Eingeborenensprache enthielt. Die französische Übersetzung hatte er mithilfe eines provenzalischen Händlers, dessen Schiff vor zwei Wochen in der Bucht geankert hatte, fast vollständig ins Englische übertragen und lernte nun eifrig alle Worte, die der Missionar dokumentiert hatte. Gestikulierend und radebrechend hatte er seine neuen Kenntnisse bei den Indianern ausprobiert und damit einige Erheiterung ausgelöst, denn anscheinend ließ seine Aussprache manches zu wünschen übrig.
Elizabeth sah sich ein letztes Mal um, während sie tiefer ins Wasser watete. Der Strand lag einsam in der Sonne, weit und breit war keine Menschenseele in Sicht. Entschlossen holte sie Luft und tauchte unter. Das Musselinhemd bildete große Blasen um ihren Körper, doch der Stoff war fein und durchlässig und behinderte sie daher kaum beim Tauchen. Perlende Luftblasen stiegen vor ihrem Gesicht auf, während sie mit zügigen Bewegungen weiter hinausschwamm.
Als sie tiefer hinabtauchte, fühlte sie sich zum ersten Mal seit Wochen befreit, beinahe glücklich. Die farbenschillernde Unterwasserwelt schlug sie sofort in ihren Bann. Die verzweigten Korallengewächse, die leuchtenden Fische und das klare, warme Wasser schienen ihre Gedanken vollständig gefangen zu nehmen. Weit weg war auf einmal der Trennungsschmerz, der ihr seit Wochen das Herz schwer machte, verflogen die schlimmen Erinnerungen an den tränenreichen Abschied. Als Duncan, Anne und Felicity auf der Elise davongesegelt waren, hatte sie dem Schiff nachgestarrt, bis sie es nicht mehr sehen konnte, und danach hatte sie sich stundenlang in ihrer Kammer eingesperrt und die Kinder Deirdre überlassen, weil sie niemanden um sich haben mochte. Das laute Schluchzen Felicitys, als diese, Arm in Arm mit Anne, ein letztes Mal vom Deck der Elise herübergewinkt hatte, Duncans trauriger Blick– all das hatte sich, einem düsteren Bildnis gleich, mit schmerzhafter Eindringlichkeit so tief in ihr Gedächtnis gegraben, dass sie es immer noch vor Augen hatte. Nur hier unter Wasser schien sich mit einem Mal aller Kummer aufzulösen. Nichts war mehr wichtig, nur noch die enorme, bizarr geformte Muschel dort am Meeresboden oder der ungewöhnlich lange, hellgelbe Fisch weiter drüben. Elizabeth berührte vorsichtig die anemonenähnlichen Auswüchse an einem Felsen, bestaunte einen kugeligen, von kleinen Buckeln übersäten Fisch, der auf den ersten Blick einem Stein verblüffend ähnelte, und beobachtete fasziniert das Herannahen eines großen Oktopoden, der im Vorbeischwimmen mit einem blitzartigen Auseinanderzucken seiner langen Kopftentakel einen arglos vor ihm treibenden Fisch schnappte und verschlang.
Mit einem letzten langen Rundumblick betrachtete sie das bunte Panorama des Meeresgrundes, bevor
Weitere Kostenlose Bücher