Wind der Traumzeit (German Edition)
schlechtes Gewissen an. Sie wusste, dass sich ihre Mutter Sorgen machen würde, aber sie musste einfach wissen, ob es Chocolate gut ging, auch wenn dafür niemand Verständnis zu haben schien. Sie beeilte sich, denn sie fühlte sich unwohl. Die Luft schmeckte schon nach Rauch, und die Sonne war von Qualmwolken verdeckt, die ein bedrohlich düsteres Bild vermittelten. Marie sah schon von weitem, dass die Hauptstraßen abgesperrt waren. Sie kannte sich in der Gegend um den Reitstall jedoch so gut aus, dass sie auch private Zufahrten und Trampelpfade nutzte, damit sie ungesehen weiterkam. Außer Atem erreichte sie schließlich den verlassenen Hof, über den gelbgraue Rauchfahnen hinwegzogen. Ein beklommenes Gefühl beschlich sie, als sie abstieg und ihr Fahrrad abstellte. Niemand war hier, und noch nie war ihr der Reiterhof so verlassen vorgekommen. Der Rauch kratzte im Hals, aber sie beschloss dennoch sicherheitshalber im Stall nachzusehen. Sie öffnete die große Tür und ging hinein. Die Stille, die sie dort erwartete, hatte etwas Bedrohliches an sich, doch Marie ging mutig weiter. Nun war sie so weit geradelt, um nach dem Rechten zu sehen, jetzt wollte sie es auch zu Ende bringen.
Ihre Schritte hallten unnatürlich laut auf dem Boden der Stallgasse, und die leeren Pferdeboxen kamen ihr fremd vor. Ehe die Feuergefahr sich genähert hatte, hatte ihr über jede Boxtür hinweg ein anderes neugierig dreinschauendes Pferd entgegengesehen. Am Ende der Gasse öffnete sie routiniert die Tür zur Sattelkammer und erblickte auch hier gähnende Leere. Ein heftiger Windstoß traf sie, und sie atmete bei der stickigen Hitze unwillkürlich auf. Gleich darauf fuhr sie jedoch erschrocken zusammen, als die schwere Stalltür, die sie am Ende der Gasse offen stehen gelassen hatte, mit lautem Krachen ins Schloss fiel. Dämmrige Stille umgab sie mit einem Mal, nur unterbrochen vom unablässigen Gebrumm zahlloser Fliegen.
Die Einsamkeit kam ihr plötzlich unerträglich vor, und sie beschloss, rasch zu ihrer Mutter zurückzufahren. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass diese ihr Verschwinden schon bemerkt haben musste. Während sie die Gasse entlang zurückging, dachte sie an die Gardinenpredigt, die sie bestimmt zu erwarten hatte. Vor der dunklen Holztür blieb sie stehen und griff nach dem Türknauf. Verdutzt stellte sie fest, dass er sich nicht drehen ließ. Sie packte ihn fester und versuchte es wieder und wieder, doch er bewegte sich nicht. Vermutlich war er eingerostet, denn die Tür stand sowieso meistens offen. In Marie stieg Angst auf. Was nun?
Nora lief unruhig vor dem Telefon in der Diele auf und ab und kehrte dann wieder nervös ins Wohnzimmer zurück. Es war höchstens eine halbe Stunde vergangen, und Bill konnte nochgar nichts erreicht haben und dennoch war sie der Panik nahe. Sie kam sich so hilflos vor. In Deutschland hätte sie rasch ihre Eltern fur die Kinderbeaufsichtigung parat gehabt und sich so selbst an der Suche beteiligen können. Was würde Max nur sagen, wenn er wüsste, in welcher Gefahr Marie gerade war? Ihre Sorge wandelte sich in Wut auf das Pferd. Wenn sie dieses verdammte Pferd nicht bekommen hätte, wäre sie jetzt wahrscheinlich nicht in Gefahr.
Nora hielt es nicht mehr aus und ging zum Funkgerät, um die Farm der Garretts anzufunken. Sie suchte die Kennung heraus und nahm Kontakt auf. Es rauschte und knackte in der Leitung, als sich jemand meldete. Sie fragte nach Tom und erfuhr, dass das Flugzeug mitsamt einem Notfall gestartet war. Sie bedankte sich, hängte ein und rief gleich darauf in der Zentrale an. »Hallo, Greg, hier ist Nora. Nora Morrison. Kannst du mir sagen, wann Tom wieder in Cameron landen wird?«
»Hi, Nora. Ich wünschte, ich könnte es. Phil war nicht in bester Stimmung, als er den Start gemeldet hat, und das, obwohl sie wegen des Notfalls gar nicht mehr auf der Henderson-Piste landen mussten.« Er sah auf die große Wanduhr. »Sie sind jetzt etwa seit einer Stunde unterwegs. Keine Ahnung, wie sie durchkommen und ob eine Landung in Cameron überhaupt klappen wird.«
Nora versuchte krampfhaft sich ihre Verzweiflung nicht anmerken zu lassen, und doch zitterte ihre Stimme. »Bitte, Greg, kannst du sie mal anfunken? Wir mussten unser Haus verlassen und sind jetzt bei Bill und Lisa. Marie ist verschwunden und …« Sie brach ab, weil ihr nun doch die Tränen in die Augen stiegen. »Ich versuch’s, Nora, bleib mal dran.« Sie hörte, wie er das Flugzeug anfunkte. Erst beim dritten
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