Wind der Traumzeit (German Edition)
eine Krankenschwester begleitet, aber da sie bei diesem Besuch nicht durch den üblicherweise dicht gedrängten offiziellen Terminplan weiter gehetzt wurden und Nora sich erboten hatte, so gut wie möglich zu helfen, sahen sie der vor ihnen liegenden Aufgabe beide entspannt entgegen.
Tom kannte inzwischen die meisten Aborigines in der Siedlung persönlich, und er kam immer wieder gerne hierher. Nach seinen Erfahrungen als Arzt in den Hungergebieten Afrikas war er psychisch und physisch zermürbt nach Australien zurückgekehrt und hatte sich in seinem alten Leben nicht mehr zurechtgefunden. Die Ohnmacht gegenüber Bürgerkrieg, Hunger und Tod hatte ihn an seine Grenzen geführt und ihn erkennen lassen, wie oberflächlich die Menschen in den so genannten Industrieländern manchmal ihr Leben lebten, sich oftmals mit Nebensächlichkeiten wie Kleidung oder der Frage über Freizeitvergnügen am Wochenende den Kopf zerbrachen, während anderswo auf der Welt Menschen zum gleichen Zeitpunkt um das nackte Überleben kämpften. Wo Mütter mit leerem Blick mit ansahen, wie die Kinder, die sie geboren hatten, plötzlich aufhörten vor Hunger zu weinen und stattdessen ihren letzten Atemzug taten.
Damals war Tom nach zwei Jahren in seine Heimat zurückgekommen und hatte diese Rückkehr wie einen Kulturschock empfunden. Und außerdem waren Zweifel in ihm aufgestiegen, was seine Berufung als Arzt anging. Innerlich verzweifelt darüber, wie wenig er für die Menschen in Afrika hatte tun können, glaubte er das Recht verloren zu haben, als Arzt tätig zu sein. Einige Zeit war er ziellos in Australien umhergereist. Später hatte er die Abgeschiedenheit des Outback gesucht, um wieder zu sich zu finden. Ein paar Wochen war er auch bei seiner Schwester Caroline in Darwin gewesen, um anschließend in die Nähe von Cameron Downs zurückzukehren. Selbst zu diesem Zeitpunkt hatte er sich noch nicht aufraffen können, wieder als Arzt zu arbeiten.
Nach einem Angelausflug in den Busch war er in der Siedlungaufgetaucht und freundlich zum Bleiben aufgefordert worden. Marrindi und Banggal erinnerten sich noch gut an Tom und erkannten mit der Weisheit der Ältesten, dass der »Doc« selbst Hilfe brauchte. Man ließ ihn deshalb einfach in Ruhe und bezog ihn nur insoweit in die dörfliche Gemeinschaft ein, wie er von sich aus den Kontakt suchte oder nicht die geheimen Traditionen des Stammes gefährdete. Es entwickelte sich tiefer gegenseitiger Respekt und schließlich eine Freundschaft, aus der beide Seiten Lehren ziehen konnten. Mit dem wachsenden Vertrauen zueinander gewann Tom ein nie geahntes Verständnis für die Kultur der Aborigines.
Die »Clever Men« des Stammes, die Schamanen oder »Wirinun«, wie die Aborigines selbst sagten, Marrindi und sein Nachfolger Banggal halfen ihm in langen Gesprächen und Diskussionen dabei, seinen Weg ins Leben zurückzufinden. Später erkannte Tom, dass er hier in seinem eigenen Land, dem reichen Australien, Trost in der Aufgabe gefunden hatte, dazu beizutragen, die alte Kultur der Ureinwohner am Leben zu erhalten. Er hatte die Gründung der Künstlerwerkstatt angeregt und sich für die Verbreitung der hier entstehenden Werke eingesetzt.
Ein wenig erschrocken musste Tom jetzt feststellen, wie alt und gebrechlich Marrindi inzwischen geworden war. Sein Haar und der wehende Bart leuchteten weiß und boten einen starken Kontrast zu seiner dunklen faltigen Haut. Er war dünn geworden, und die Schultern und der einstmals gerade Rücken schienen ihn nach vorn zu beugen. Nur seine großen dunklen Augen hatten nichts von ihrer Wachsamkeit und Lebendigkeit eingebüßt. Als Tom ihn so offensichtlich besorgt musterte, lächelte der Alte und entblößte einige Zahnlücken, während er umständlich Platz nahm.
»Du machst dir Sorgen um mich, Tom? Dazu besteht kein Grund. Ich bin alt, daran lässt sich nichts ändern. Es wird langsam Zeit für mich, mit meinen Ahnen zusammenzukommen.« Tom hatte sich ihm gegenüber auf einer Holzbank niedergelassen. Er war froh darüber, dass sie hier noch ganz allein waren. Banggal wurde mit Nora in einiger Entfernung von den Frauen des Stammes umringt, die dem weiblichen Gast ihre Kinder vorstellten. Ernst erwiderte er den ruhigen Blick des alten Mannes.
»Marrindi, lass dich von mir untersuchen. Vielleicht kann ich dir helfen.«
Der Alte lächelte nachsichtig. »Ihr Weißen könnt den Gedanken an den Tod nicht ertragen, nicht wahr? Dabei gehört der Tod zur Natur. Er ist Teil des
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