Wind der Traumzeit (German Edition)
großen knorrigen Baum saßen. Selbst auf die Entfernung spürte sie, dass ihren Mann etwas bedrückte. Als ihre Gedanken einen Moment bei Tom verweilten, richtete sich Marrindis Blick eigenartig wissend auf sie. Sekundenlang sahen sie sich an, dann wich Nora ihm aus. Als Tom immer noch keine Anstalten machte, mit der Babysprechstunde zu beginnen, griff sie nach einem schmalen Aktenordner und schlug ihn auf. Sie studierte die Listen und Eintragungen, die Lisa und Kim bei den vorangegangenen Terminen gemacht hatten, und erfasste rasch das Prinzip. Es würde ihr Freude bereiten, die Kinder zu sehen und kennen zu lernen, die zu den notierten Namen gehörten. Marrindi wies mit einer Kopfbewegung auf Nora. »Sie ist eine gute Frau, hm?«
Tom war seinem Blick gefolgt, und er lächelte zustimmend. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, fragte der Alte: »Wann kommt das Kind?«
Tom öffnete sprachlos den Mund. Nora war im vierten Monat schwanger. Aufgrund der lang anhaltenden Übelkeit hatte sie zunächst nur abgenommen. Sie trug Jeans und einen grob gestrickten Baumwollpullover. Kein Außenstehender hätte geahnt, dass sie schwanger war. Verblüfft wandte er sich Marrindi zu. »Woher … ?«
Der Alte schnitt ihm das Wort ab. »Ich weiß es einfach. Genügt das nicht?«
Tom war zum zweiten Mal verunsichert. Schließlich schüttelte er kurz irritiert den Kopf. »Das Baby kommt in fünf Monaten.« Er fuhr sich über die Stirn, während sein Blick zu seiner Frau wanderte. »Ja, sie ist gut. Genau genommen ist sie die Einzige, die ich je wirklich gewollt habe, Marrindi. Wie man so sagt: Sieist die Liebe meines Lebens.« Er sah spöttisch zu seinem dunkelhäutigen Freund. »Falls du damit etwas anfangen kannst.« Marrindi schien ihn nicht gehört zu haben. Er schaute unverwandt zu Nora und beobachtete sie. Mittlerweile war sie neben einem Jungen in die Hocke gegangen, der an einen Baum gelehnt Didgeridoo spielte. Neben ihm saß ein älterer Mann, dessen Instrument in seinen Händen ruhte. Augenscheinlich gab er dem Jungen Unterricht. Marrindi sah zu, wie der ältere Didgeridoo-Spieler ein paar Worte mit Nora wechselte und wie sie daraufhin lächelte.
Der alte Schamane seufzte schließlich und schaute Tom an. »Sie hat einen guten, offenen Blick. Sie scheint die Richtige für dich zu sein.« Er machte eine Pause, dann murmelte er: »Aber sie ist auf der Suche nach etwas. Du wirst um sie kämpfen müssen, Tom.«
Tom runzelte die Stirn. »Du irrst dich, Marrindi. Den Kampf um sie habe ich hinter mir. Was du vielleicht siehst, sind die Schatten der Vergangenheit.« Er schwieg einen Moment, bevor er fortfuhr: »Nora leidet darunter, dass ihr Sohn aus erster Ehe in Deutschland geblieben ist. Er wollte nicht mit hierher kommen.«
Marrindi nickte bedächtig. Seine Augen ruhten wieder auf Nora. Er machte einen abwesenden Eindruck und schien weit weg zu sein. Ein sorgenvoller Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Nach einer Weile rieb er sich mit seiner knochigen Hand müde die Augen.
Vor langer Zeit, als er ein Kind gewesen war, hatten ihm seine besonderen Fähigkeiten oft Angst gemacht. Früh schon hatte er bemerkt, dass er anders gefühlt und gedacht hatte als die anderen Kinder seines Clans. Er war darüber keineswegs glücklichgewesen. Oft hatte er die Einsamkeit gesucht, um in Ruhe nachdenken zu können. Merkwürdig klare Träume hatten ihn heimgesucht, und er war unsicher darüber gewesen, ob sie etwas zu bedeuten hatten.
Als er eines Tages allein am Flussufer gesessen hatte, war Namingkar, der Wirinun und Heiler des Stammes, lautlos aufgetaucht und hatte neben ihm Platz genommen. Zunächst hatte Marrindi, der Junge, verstockt geschwiegen, aber der Wirinun schien ihn schon seit längerer Zeit beobachtet zu haben und verwickelte ihn in ein Gespräch. So hatte alles angefangen. Sein Weg durch Prüfungen und Initiationen, die von den alten Schamanen durchgeführt worden waren, war lang und oft hart und schmerzvoll gewesen. Und doch wusste er heute – praktisch am Ende seines Lebens –, dass er für sein Volk eine besondere Aufgabe erfüllt hatte, deren oberstes Ziel es war, den Menschen ein Empfinden für die Schöpferischen Mächte zu erhalten, ohne die es diese Welt nicht gäbe. Er hatte akzeptiert, dass er zu den wenigen Geistreisenden gehörte, deren Bewusstsein Ebenen der Wirklichkeit erreichen konnte, die gewöhnlichen Sterblichen verschlossen blieben.
Marrindi starrte gedankenverloren vor sich hin, während ihn diese
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