Wind der Traumzeit (German Edition)
Erinnerungen überkamen. Er musste lange geschwiegen haben, denn Tom legte nun eine Hand auf seinen Arm und sah ihn fragend an.
»Was ist los, Marrindi? Was hast du gesehen? Etwas, das mir Sorgen machen müsste?«
Der Alte rieb sich den Bart. »Das, was ich gesagt habe, stimmt. Du wirst um sie kämpfen müssen.«
Tom runzelte die Stirn. Wie den meisten Weißen fehlte ihm der unerschütterliche Glaube der Aborigines an spirituelle Fähigkeiten und Geschehnisse zwischen Geist und Materie. Dennoch hatte ihn Marrindi mehr als einmal mit Aussagen und Vorhersagen verblüfft, die wie selbstverständlich eingetreten waren. Tom wurde unruhig. So hatte er sich seinen Besuch hier nicht vorgestellt.
»Wie meinst du das? Wird es Probleme bei der Geburt oder mit dem Kind geben?«
»Nein.« Marrindi lächelte. »Deine Frau wird noch einen Sohn bekommen.« Er tastete nach Toms Hand und drückte sie. Er schien zu bedauern, dass er ihn in Sorge versetzt hatte. »Mach dir keine Gedanken wegen eines alten Mannes, Tom. Es wird nichts geschehen, was ihr nicht kraft eures Willens und eurer Liebe bewältigen könnt.«
Er blickte jetzt zum Versammlungshaus, vor dem sich die ersten Frauen mit ihren Kleinkindern und Babys einfanden. »Siehst du? Du wirst erwartet. Lass mich ruhig noch ein wenig hier im Schatten sitzen. Ich bin müde geworden.«
Tom musterte ihn noch einmal ernst und nickte dann. »Na gut. Ich bin dort drüben, falls du mich brauchst.«
Stunden später folgten Noras Augen einem dünnen Hund, der über den staubigen roten Hauptweg auf die andere Seite lief, wo ein kleiner dicht bewachsener Pfad zwischen den Bäumen verschwand und zum Flussufer hinunterführte. Sie war vorhin mit Tom dort gewesen, als sie den im Wasser spielenden und planschenden Kindern des Clans zugeschaut hatten. Tom war inzwischen wieder bei Marrindi, dessen eigenartig wissende Augen Nora so stark verunsicherten, dass sie es vorgezogen hatte, ein erneutes Zusammentreffen erst einmal zu vermeiden. Sie war bei den Künstlern geblieben.
Jetzt lehnte sie sich gegen den Baumstamm zurück, unter dessen Blätterdach sie saß, und sah einer der älteren Künstlerinnen zu, die ihr als Wudima vorgestellt worden war. Diese rührte gerade eine Farbe an, die sie für die Fertigstellung ihres nächsten Bildes benötigte. Noras alte Faszination und Begeisterung, was die Kunst der Aborigines betraf, waren zurückgekehrt. Ihre persönlichen Sorgen waren plötzlich weit genug weg, um die neu gewonnene Freiheit genießen zu können. Sie erfreute sich an den warmen Naturtönen der Farben und ließ sich Wudimas Maltechnik erklären. Später hörte sie gebannt zu, als diese ihr anhand der angefangenen Zeichnung erklärte, welche Geschichte das Bild darstellen würde.
Nora vermisste zum ersten Mal seit langer Zeit ihr Notizbuch, war sich aber ohnehin nicht sicher, ob es ihr erlaubt gewesen wäre, sich Notizen zu machen. Wudima schien ihre Irritation zu spüren und hielt inne. Fragend ruhten ihre samtigen dunkelbraunen Augen auf ihr. Nora erwiderte ihren Blick ein wenig verlegen.
»Es ist nichts. Ich mag eure Erzählungen nur so sehr, dass ich sie am liebsten alle aufschreiben würde.« Sie sah über die einfachen, fast schäbigen Häuser hinweg. »Manchmal habe ich Angst, dass eure Traumzeit einfach so verloren geht. Ich weiß natürlich, dass ihr eure Traditionen und auch eure Geschichten in den Erzählungen für eure Kinder und auch in eurer Malerei weitergebt, aber trotzdem wird mir mitunter angst und bange.« Sie verstummte und wurde rot. Musste das nicht überheblich oder gar bedrohlich klingen? Sie hoffte, dass die alte Frau sie richtig verstanden hatte.
Wudima schien mit ihrer Farbe zufrieden und hörte auf darin zu rühren. »Du bist gut im Beobachten, Nora. Die meistenMenschen bekommen gar nicht mit, wie rasend schnell sich die Zeiten für unser Volk verändert haben. Es wurde viele Jahre lang erwartet, dass wir uns an eure Kultur anpassen. Aber wie können wir das, wenn unsere Traditionen uns das Gegenteil dessen vorschreiben, was ihr für gut befindet? Wir wollen den Erhalt, ihr den Fortschritt.« Sie seufzte. »Es stimmt, wir haben hier für uns so etwas wie eine Nische zwischen den Kulturen entdeckt. Mit dem Verkauf unserer Bilder für Touristen leben wir in eurer Welt, aber mit den Traditionen in unserer Siedlung hier am Fluss halten wir doch noch an unserem alten Leben fest. Manchmal kommt es mir vor, als balancierten wir auf zwei Beinen über zwei
Weitere Kostenlose Bücher