Wind der Traumzeit (German Edition)
gegen den Stamm des Baums, unter dem er am liebsten saß. Obwohl die Familienstrukturen seines Clans ganz anders zusammenhingen und funktionierten als bei den Weißen, wusste er, dass es die Trennung der Eltern war, die den Jungen so versteinert hatte. Er war für sein Alter ungewöhnlich ernst und schien Angst davor zu haben, Gefühle zu zeigen. Marrindi dachte nach. Er war inzwischen so alt, dass er meinte, ihn könnte nichts mehr überraschen.
Die Menschen waren manchmal einfach dumm, denn die meisten Probleme schufen sie sich selbst. Missverständnisse, Streit, Neid und die Unfähigkeit, einander Fehler verzeihen zu können, waren die Hauptursache für Kummer und Leid. Wenn sich aber Wut oder Groll erst einmal in einem breit machten, schadete man sich nur selbst, denn diese Gefühle verhinderten das freie Strömen der Lebensenergie. Marrindi öffnete die Augen und betrachtete Niklas erneut. Der Junge war nicht frei und unbeschwert, so viel stand fest.
Am Abend fand sich die Gemeinschaft am Feuer zusammen. Es wurde gegessen, erzählt und gelacht. Am Himmel zogen einzelne dicke Wolkenfelder vorüber, gaben aber zwischendurch immer wieder den Blick auf eine schier unglaubliche Zahl von Sternen frei.
Nach einer Weile sah Niklas über die Flammen hinweg und entdeckte einen Hund, der humpelnd den Pfad zum Fluss hinunterlief. Er stand auf und folgte dem Tier. Leise rief und lockte er es zu sich und streichelte es. Der Hund schien überausdankbar für die unerwarteten Streicheleinheiten und wedelte. Niklas löste einen kleinen Schlüsselanhänger mit einer winzigen Taschenlampe von seinem Gürtel, schaltete sie ein und beleuchtete die Pfote, die der Hund sich nun eifrig leckte. Im Schein der Lampe untersuchte er sie und fand ein spitzes Steinchen, das sich zwischen den Ballen festgesetzt hatte. Er redete beruhigend auf das Tier ein und entfernte den Stein behutsam. Anschließend klopfte und streichelte er den Hund erneut, der jetzt begeistert um ihn herumsprang.
Niklas lachte leise. »Siehst du, so ist es doch gleich viel besser, nicht?« Er wandte sich um und erschrak, denn Marrindi stand plötzlich vor ihm.
Der Alte stützte sich auf einen Stock und lächelte. »Da hast du wohl einen neuen Freund gewonnen.«
Niklas hakte seinen Schlüsselanhänger wieder fest und schob die Hände in die Hosentaschen. »Hm.«
Marrindi deutete auf einen abgelegten Baumstamm, der am Flussufer als Bank diente. »Komm, wir setzen uns einen Moment.«
Obwohl Niklas der alte Schamane ein wenig unheimlich war, folgte er ihm. Er wusste, dass Marrindi in der Gemeinschaft einen hohen Rang einnahm. Sie schwiegen einige Minuten und sahen auf den Fluss, der jetzt im Herbst nur mehr ein dünnes Flüsschen war.
Marrindi zeigte auf das Wasser und bemerkte: »Nach den ersten Regengüssen wird er wieder so breit sein, dass wir an dieser Stelle nasse Füße bekämen.«
Niklas war erstaunt. »Ehrlich?«
Marrindi nickte. »Ja. Sag, Niklas, gefällt es dir hier in Australien?«
Der Junge verfolgte ernst, wie ein paar dichte Wolkenfelder an der dünnen Mondsichel vorüberzogen. »Ja, ich finde es interessant hier. Es ist alles total anders als in Hamburg. Die Jahreszeiten, die Tiere, einfach alles.«
Marrindi schwieg sekundenlang, dann nickte er wieder. »Deine Mutter hat sich gleich in dieses Land verliebt, schon als sie das erste Mal herkam.«
Niklas verzog abschätzig die Mundwinkel. »Nicht nur in das Land.«
Der Alte sah ihn von der Seite an. »Tom ist ein guter Mann.« Niklas blieb trotzig. »Das ist mein Vater auch.«
»Bestimmt ist er das. Sonst hätte er auch nicht zu deiner Mutter gepasst, und sonst wärst du nicht so, wie du bist.«
Niklas, dem unbehaglich zumute war, rutschte hin und her. Was sollte das hier eigentlich? Was wollte ihm der Alte sagen? Andererseits fand er die Situation durchaus spannend. Er saß spätabends mitten in Australien mit einem alten Aborigine am Flussufer. Weiter konnte man sich wohl kaum von Mathematikarbeiten oder Judoturnieren entfernen.
Marrindi stützte sich auf seinen Stock und sah aufs Wasser. »Deine Mutter interessiert sich sehr für unsere Traumzeit und ihre Geschichten. Soll ich dir mal eine ihrer Lieblingsgeschichten erzählen?«
Niklas nickte. Dieses Angebot konnte er ja wohl auch kaum ablehnen. Also zog er die Füße hinauf und setzte sich im Schneidersitz bequem zurecht.
Marrindi begann zu erzählen. »Vor langer Zeit lebte beim Clan der Goanna-Leute ein Junge namens Djambadu. Er war
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