Wind der Traumzeit (German Edition)
anders als die anderen Jungen seines Clans, denn er hatte schon früh viele Fragen und Gedanken, die ihn beschäftigten und nichtmehr losließen. Dennoch bemühte er sich mit aller Macht, so zu sein wie all die anderen Kinder der Goanna-Leute, die sich immer dann über ihn lustig machten und ihn verspotteten, wenn er wieder einmal völlig in Gedanken versunken meditierte, über die Bedeutung seiner Träume nachdachte oder über den Weg in die Zukunft grübelte, anstatt wie die anderen auf die Jagd nach Kleintieren zu gehen oder im Fluss zu schwimmen. Es gefiel ihm nicht, dass er offenbar so anders war, und er litt darunter, von den anderen als Träumer verlacht zu werden. Als Djamba-du eines Tages besonders böse gehänselt und ausgegrenzt worden war, lief er fort und kletterte in unwegsamem Gelände in eine Höhle, wo er sich stundenlang versteckte. Er war zornig und fühlte sich durch das Verhalten der anderen verletzt. Als ihn in der Dunkelheit der Hunger und die Kälte aus der Höhle trieben, geriet er ins Straucheln und stürzte einen steinigen Abhang hinunter. Er brach sich ein Bein. Die Leute seines Clans fanden ihn erst am anderen Morgen und brachten ihn ins Lager, wo sich der Wirinun – der Heiler und Magier des Stammes – seiner annahm. Der über viele Stunden hinweg unbehandelt gebliebene Bruch war jedoch kompliziert und hatte sich obendrein noch entzündet. Es stand tagelang nicht fest, ob Djambadu das Fieber überstehen oder sein Bein verlieren würde.«
Marrindi machte eine kleine Pause, und Niklas sah ihn gespannt an.
»Er wurde wieder gesund, aber das Bein blieb steif, sodass der Junge fortan humpelte. Er haderte mit seinem Schicksal und suchte die Schuld bei den anderen.« Marrindi neigte seinen Kopf Niklas zu. »Was meinst du, Niklas, wer hat Schuld? Die anderen Kinder, die ihn geärgert haben, oder er selbst, der dort oben herumgeklettert und gestürzt ist?«
Niklas dachte kurz nach. Die anderen Jungen hatten ihn zwar zur Flucht veranlasst, aber Djambadu allein war in die Felsen geklettert und schließlich gestürzt. Niklas hegte ausgesprochene Sympathien für den Einzelgänger Djambadu. Trotzdem blieb er neutral. »Schwer zu sagen. Irgendwie haben beide Seiten falsch gehandelt.«
Marrindi schloss die Augen und nickte. »Djambadu ahnte das bereits, und doch war der Zorn noch in ihm. Es war leichter, den anderen die Schuld zu geben. Er wurde immer verbitterter, und auch seine Gesundheit litt, denn der Groll setzte sich in ihm fest und bewirkte, dass er sich nicht entspannen, ja, sich über nichts mehr freuen konnte. Diese Entwicklung bemerkte der alte Wirinun. Er hieß Yaobeda.« Marrindi grinste. »Das muss ein ähnlich alter Knochen wie ich gewesen sein. Also, Yaobeda nahm sich seiner an. In langen Gesprächen erörterten sie philosophische Fragen und sprachen über den Sinn des Lebens. Djambadu lernte viel über sein Volk, und sein Geist wurde frei. Er erkannte viele Zusammenhänge im menschlichen Miteinander der Stammesgemeinschaft und des Lebens an sich, das wie ein Fluss von der Quelle bis zum Meer ist. Ihm wurde klar, dass der Groll, den er bis dahin in sich getragen hatte, sein Leben vergiftete, ja, ihn daran hinderte, etwas Nützliches, etwas Besseres zu tun, dass er seine Energien nicht in negative Gefühle investieren und sich darin verlieren, sondern sie auf positive Dinge verwenden sollte, wie zum Beispiel etwas zu erforschen, was ihm noch unklar war, oder auf den Erhalt der Natur.«
Marrindi legte den Kopf in den Nacken und sah zu den Sternen auf. »Jeden Tag aufs Neue können wir uns entscheiden, ob wir unsere Energie und unsere Kraft auf etwas Destruktives oder Sinnloses verwenden oder ob wir sie für positive Dinge einsetzen und vielleicht etwas Gutes bewirken wollen.« Er schaute Niklas wieder an. »Djambadu erfuhr von Yaobeda viel über den Kreis der Zeit und unsere Traumzeit-Ahnen. Der Junge zeigte dabei so viel Verständnis für die geheimnisvollen Zusammenhänge und Traditionen, dass schließlich die Geister der Ahnen durch ihn wirkten und ihn Jahre später selbst zu einem großen Wirinun werden ließen.«
Niklas hatte gespannt zugehört und schwieg nun nachdenklich. Zwar hatte sich recht bald, nachdem Marrindi mit seiner Geschichte begonnen hatte, der alterstypische Trotz und Widerspruchsgeist gegen eine solche »Moral von der Geschicht«-Erzählung gemeldet, wenig später jedoch war ihm aufgefallen, dass die Werte der beiden ansonsten so unterschiedlichen Völker gar
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