Wind der Traumzeit (German Edition)
ein Wunder vor. Als sie Tom anschaute, ließen seine Augen sie nicht mehr los. Er nahm ihre Hand und legte sie an seine Wange. Er musste nichts sagen, denn wie immer stand alles in seinem Blick.
Bill war berührt. Selten zuvor hatte er seinen Kollegen derart ergriffen erlebt. Ein wenig verlegen stellte er sich neben ihn. »Tom, du möchtest ihn doch sicher selbst abnabeln, oder?«
Nora lachte leise. »Wenn er dazu noch imstande ist. Er scheint ja ganz hingerissen von dem Kleinen.« Sie schaute ihn liebevoll an. Bill grinste, während er seinem Kollegen zusah.
»Wie soll er denn heißen, der kleine Bursche?«
Die Nabelschnur war abgeklemmt, und Tom nahm das Baby hoch. Er sah fragend zu Nora, die ihm aufmunternd zunickte.
Daraufhin drehte er sich mit dem Kind zu Bill. »Er heißt Steven. Steven Morrison.«
Lisa kam mit einem rollbaren Babybett ins Entbindungszimmer, das sie neben den Wickeltisch stellte. »Steven. Was für ein schöner Name. Gibst du ihn mir, Tom? Er soll nicht frieren. Ich wiege und messe ihn rasch, dann bekommt ihr ihn angezogen zurück.«
Während Nora von Bill genäht wurde, setzte sich Tom zu ihr und hielt ihre Hand. Nora biss bei jedem Stich, den Bill machte, die Zähne zusammen. Trotzdem war sie glücklich. Sie verspürte unendliche Erleichterung, dass sie es geschafft hatte. Sie war grenzenlos dankbar, noch ein gesundes Kind bekommen zu haben, und sie liebte Tom.
Die nächsten Wochen führten Nora dann aber an ihre Grenzen. Steven war ein unruhiges und empfindliches Kind, das kaum einmal länger als drei Stunden hintereinander schlief und ganze Nächte hindurch schrie. Organisch fehlte ihm nichts. Er war das, was man im Allgemeinen als Schrei- oder Kolikbaby bezeichnete. Körperlich selbst erschöpft, fiel es Nora immer schwerer, ihren beiden Töchtern gerecht zu werden. Über diese Erschöpfung hinaus machte das Baby es unmöglich, sich täglich ausgiebig um die Mädchen zu kümmern.
Sophie zeigte alle normalen Anzeichen von Eifersucht und wollte »wie das Baby« versorgt werden, was hieß, dass sie wieder rund um die Uhr gewickelt werden musste, obwohl sie es zuvor schon öfter aufs Töpfchen geschafft hatte. Marie hatte sich über das Brüderchen gefreut, dann aber schnell festgestellt, wie unruhig das Familienleben geworden war. Sie spürte die Müdigkeit und Reizbarkeit ihrer Mutter und nutzte jede sich bietendeMöglichkeit, sich in den Reitstall zu verziehen. Nora wusste, dass sie über die schulische Situation ihrer ältesten Tochter momentan nicht im Bilde war, und sie litt darunter, es wieder einmal nicht allen recht machen zu können. Mehr als einmal fragte sie sich, wie es andere Familien mit mehreren Kindern schafften, diesen Anforderungen zu genügen.
Nichts fehlte ihr mehr als Schlaf. Sie hätte nie gedacht, dass man sich so sehr nach Schlaf sehnen konnte. Steven schrie so oft, dass nach einigen Wochen auch nur ein harmloses Knacken des Babyfons Schweißperlen auf ihre Stirn trieb und ihre Handflächen feucht werden ließ. Bleich und abgespannt vernahm sie bei Kinderarztterminen die Erzählungen anderer Mütter, die stolz berichteten, dass ihre Babys sich nur noch einmal pro Nacht »meldeten«, gestillt wurden und wunderbar weiterschliefen.
Sie hätte Steven auch gerne viermal pro Nacht gestillt, wenn er dann nur ein einziges Mal weitergeschlafen hätte. Aus purer Angst vor seinen Koliken aß sie nicht das Geringste, was diese auslösen konnte. Doch auch wenn sie kaum noch etwas zu sich nahm, schrie er. Selbst Tom war ratlos. Er erkannte, wie sehr sich die Mädchen zurückgesetzt fühlten, und doch hatte auch er keine Lösung parat. Sein Schichtdienst in der Klinik zwang ihn dazu, Nora oft allein zu lassen. Selbst wenn Lisa neben ihrem Job in der Klinik ihre Hilfe anbot oder auch Caroline ab und zu einsprang, waren es immer nur kleine Verschnaufpausen innerhalb dieses Vierundzwanzig-Stunden-Tages für Nora. Am meisten litt sie jedoch darunter, Marie und Sophie nicht mehr die gewohnte Aufmerksamkeit schenken zu können. Sie wollte ihre Mädchen durch den Tag begleiten, sie wollte ihnen zeigen, wie wichtig sie ihr waren. Und doch wurden Unterhaltungen, Hausaufgaben oder Bastelarbeiten immer wieder unterbrochen, weil das Babyschrie. Scherzhaft hatte sie einmal zu Tom gesagt, wie sehr es sie überrasche, dass Steven überhaupt zunehme und bei all der Schreierei offenbar prächtig gedeihe.
Wie sie es zuvor befürchtet hatte, blieb praktisch keine Zeit für ihre Ehe. Alles
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