Wind & Der zweite Versuch
Eddie, und seine Stimme wollte sich schon am Ende des Neins überschlagen. Ihm wurde dieses Spiel langsam zuviel. »Wir … wir sind mit unserem Rad schneller als jeder Krankenwagen. Bitte zeigen Sie uns den Ausgang.«
Die Stirn des Blaumanns blieb gerunzelt. Und mit der gleichen schattenhaften Behendigkeit, mit der er neben dem Rad aufgetaucht war, zauberte er ein altertümliches Handy aus der Tasche. Eddie war es langsam leid, daß seit zwei Tagen die Durchsetzung jedes seiner Bedürfnisse von Gewalt begleitet war. Er zog Bleichdepps Pistole und sagte: »Bitte.«
Der Mann wurde aschfahl, ließ das Handy fallen, drehte sich auf dem Absatz um und lief mit erhobenen Händen voraus.
»Also Sie waren das mit den Schüssen vorhin. Wissen Sie, manchmal wird hier nachts geschossen, ich kann das nicht verhindern. Oder ich bilde es mir nur ein. Aber wo Sie jetzt schon einmal hier sind, kann ich Ihnen ja gleich erzählen, daß ich es allein hier auf dem Gelände gar nicht schaffen kann. Jetzt hat man also diese Ruine hier zu einem Denkmal erklärt, will später einmal ein Museum daraus machen, und es ist nicht einmal genug Geld da, um noch einen zweiten Hausmeister einzustellen. Ein Skandal. Immer wieder fehlt etwas. Ich gehe neulich zur Verteileranlage C, und da fehlt doch tatsächlich ein ganzer Tank, 3000 Kubikmeter, und ich frage mich, wer kann den gestohlen haben, und was will er damit anfangen? Es ist furchtbar. Und dann die Schüsse nachts, und die Stimmen der Leute, die früher hier gearbeitet haben.«
Er hielt an, drehte sich um und wollte offenbar Eddie von Angesicht zu Angesicht sein Herz ausschütten. Eddie sah in das zerknitterte Jungengesicht, und für den Bruchteil einer Sekunde schwamm der Gedanke durch sein Hirn, daß dies der harmloseste Mensch war, den er seit gestern getroffen hatte. Aber er mußte einen Ausgang finden. Also hob er seine Pistole, Blaumann erbleichte erneut und drehte sich wieder um.
»Wissen Sie, die Stimmen sind das Schlimmste. Man hört hier andauernd Gespräche, die zuletzt vor dreißig Jahren stattgefunden haben, ich bin nicht verrückt, wissen Sie, das glauben Sie jetzt, das denken Sie jetzt, aber es ist nicht wahr …«
Eddie hörte nur halb zu. Bei einem kurzen Seitenblick stellte er fest, daß Tina aussah wie eine Leiche. Nach einer extrem geschwätzigen und langen Viertelstunde kam die Karawane an einem doppelmannshohen Tor an, der Mann machte sich an den Riegeln zu schaffen und brachte das Zyklopengitter tatsächlich ins Rollen.
»Und das müßte hier auch mal geölt werden, aber habe ich Geld für Öl, wo ich schon alles verbraucht habe von der Zuteilung für dieses Jahr allein für die Getriebe in der Turbinenhalle?«
Eddie stand vor dem geöffneten Tor.
»Sie können Ihre Hände herunternehmen.«
»Danke schön.«
»In welcher Stadt sind wir eigentlich?«
»In Hamburg.«
»Es tut mir leid, Sie mit dieser Pistole bedroht zu haben. Es ist nur sehr wichtig, daß wir von hier wegkommen. Nehmen Sie sich die nächsten Tage in acht. Es sind sehr gefährliche Leute auf dem Gelände.«
»Oh, das weiß ich«, sagte Blaumann. »Stimmen und Schüsse, jede Menge. Manchmal immer jede Nacht.«
»Auf Wiedersehen«, sagte Eddie.
»Auf Wiedersehen, Herr Verbrecher«, sagte Blaumann, drehte sich blitzschnell um und rannte davon.
Eddie trat in die Pedale.
Und er fuhr. Nachdem er mit dem hilflosen Bündel, das sich links von ihm in einer fötalen Haltung zusammengerollt hatte, eine Weile an verrotteten Industriebrachen vorbeigekutscht war (40 km/h absolute Spitze), geriet er in eine Siedlung von Gartenhäusern, aus Morphoplast gegossene kleine Katen, die noch leeren Geranienkübel gestapelt, monströse, weiß gestrichene Lastwagenreifen als Blumenbeete, Morphoplastfenster in Morphoplastwänden, Eddie fühlte sich wie Eddie im Wunderland. Die Siedlung war zum Glück leer am Vormittag, und er hoffte, daß die Durchfahrt nicht von einem Eisentor oder von irgendeinem Trottel behindert wurde; er hatte nicht die geringste Lust, irgendeinen Rentner zu erschießen, nur um vorbeizukommen. Nicht vor dem Mittagessen. Alles arme Schweine. Morphoplast, das Wunder der Kunststofftechnologie im 21. Jhdt., der Zauberstoff, der intelligente Kunststoff, der darauf programmiert werden konnte, eine naturidentische Tür, ein naturidentischer Ziegel, ein naturidentischer Sandstein zu sein, machte Krebs, das war seit mindestens zehn Jahren bekannt, und seit mindestens zehn Jahren wurde es auch von
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