Wind & Der zweite Versuch
abschloß, dann war er in den Himmel gefallen, aber nicht in Ohnmacht. Auch jetzt machte das Rindvieh in seinem Kreuz keine großen Anstrengungen, sich zu identifizieren, warum auch, vielleicht mußte Eddie ja doch noch auf der Flucht erschossen werden, und was hätte er dann mit einer Dienststelle, seinen Rechten als vorläufiger Gefangener, oder sogar einem Personennamen anfangen sollen? Eben. Allerdings gestaltete sich so schon der Erstkontakt mit den Staatsorganen sehr unpersönlich, sozusagen entfremdet, und Eddie hätte es nur fair gefunden, wenigstens fürs erste zu wissen, welche Dienststelle ihm da im Rücken kniete. Jetzt gerade schrie Tina ein bißchen, dann wurde das Schreien plötzlich gedämpft, als habe sie jemand geknebelt. Eddies Gesichtsfeld war auf maximal sechzig Grad in der Horizontalen und zwanzig in der Vertikalen eingeschränkt, geradeaus sah er etwa fünf Paar schwarze Turnschuhe (Adidas Protective S), und irgendwo hinten hörte er noch so etwas wie das Gemurmel begeisterter Zuschauer, denen hier die Show des Tages geboten wurde, besser als jede Massenkarambolage mit Dutzenden von Toten und brennenden Gefahrguttransporten. Eddie verfiel, die kalte Mündung im Nacken, auf den bizarren Gedanken, er habe im Moment ganz zu Recht für das Massaker in Hamburg zu büßen, andererseits hatte er diesen Bullen nicht zusammengeschlagen, eingeschläfert oder kopfüber an den Füßen aufgehängt. Eddie erkannte klar, daß er sich in irrationale Gedanken hineinsteigerte. Tina schrie immer noch. Eddie hoffte, sie würde nicht ersticken. Kerrang. Erstaunlicherweise fand die wachsende Irrationalität Eddies auch darin Ausdruck, daß er sich über den Zustand seiner Socken Gedanken machte. Waren sie sauber? Hatten sie Löcher? Man würde ihn ja wohl ausziehen – »Konrad 2, sichern«, rief der Bulle, und ein Paar der schwarzen Turnschuhe bewegte sich auf Eddie zu. Hießen hier alle Konrad, von 1 bis Ersatzmann 11. Ihm wurde eine schwarze Kapuze über den Kopf gestreift, der Kleister wurde von seinen Beinen gelöst (die Hände blieben gefaltet) und dann wurde er, mit der Pistole im Rücken, in ein Fahrzeug verladen. Seine Beine wurden wieder miteinander verklebt. Die schwarze Kapuze fusselte, und er mußte husten. Deswegen wurde er einmal mit einem stumpfen Gegenstand in den Hals gestupst, nicht allzu doll, nur so, daß er sich das mit dem Husten noch einmal überlegte. Auf dem Holzsitz mußte er vornübergebeugt sitzen. Tina saß offenbar woanders, er hörte sie nicht einmal mehr. Irgendwie erinnerte sich Eddie dunkel an Kriminalfilme, in denen Verbrechern ihre Rechte vorgelesen wurden. Das waren antike Kriminalfilme aus dem letzten Jahrhundert gewesen mit drolligen Typen in Anzügen und Hüten und mit definitiv spielzeughaften Pistolen in der Hand. Vergiß es, dachte er. Dann fuhren sie los.
Die Zelle stank. Ihre Wände waren mit Graffiti übersät, die er mittlerweile im Schlaf herbeten konnte. (Kannst du über’s Wasser laufen? Votzenlecker geht nachhause! Die Schweine von heute sind die Schinken von morgen! (Verkehrtes Hakenkreuz) Heil Hittler!) Er hatte schon einmal gestehen wollen, alles, nur damit er diese Wache verlassen konnte, aber seine Geständnisbereitschaft war auf grobe Ablehnung gestoßen, er hatte geklingelt, dem herangeschlurften Uniformer gesagt: »Ich gestehe«, und der Cop hatte geantwortet: »Einen Scheißdreck tust du.« Und war wieder gegangen. Eddie war sehr verwirrt gewesen, hatte seine Schuhe betrachtet, deren Schnürsenkel er hatte abgeben müssen und war dann ein bißchen durchgedreht. Daraufhin hatte er einen Tag mit der Kapuze überm Kopf verbracht, an der Querwand seiner Zelle klebend. Eddie wollte immer noch gestehen. Den Todesschuß in Sarajevo, die Brandstiftung im Reichstag, Olof Palme, Heribert Grötz, den Überfall in Uppenborg, alles, wenn er nur diese Zelle verlassen durfte. Wahrscheinlich hätte Tina zusätzlich auch noch die Verantwortung für Hiroshima übernommen. Tina. Um die brauchte er sich keine Sorgen zu machen, die kriegten sie mit zwei Pillen Kerrang klein. Er hätte gerne mit den Bullen einen Deal geschnitten, und das letzte, was er ins Rennen werfen konnte, waren die Stäbe, die Bullen wollten keinen Deal, das war’s. Wie lange war er jetzt hier? Drei Tage? Eddie kam sich nicht so vor, als habe er in den letzten drei Tagen irgend etwas Bestimmtes gegessen. Er hätte sich gerne mal mit jemandem unterhalten, und wenn auch nur mit einem »Rechtsanwalt«
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