Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wind & Der zweite Versuch

Wind & Der zweite Versuch

Titel: Wind & Der zweite Versuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Hammerschmitt
Vom Netzwerk:
kleinen Schilderhaus zurück, das das abgebröckelte Einfahrtstor zum Hof des Bolos als Staatsgrenze bezeichnete. Theoretisch waren die Bolos exterritorial; zwar handelte es sich dabei nur um eine fadenscheinige Übereinkunft, die der Staat mit sich selbst getroffen hatte, aber eben deshalb leistete er sich den Luxus, diese Übereinkunft zumindest äußerlich auch einzuhalten. Theoretisch war jedes registrierte und anerkannte Bolo ein Kleinstaat für sich, mit dem angenehmen Nebeneffekt, daß die rudimentäre Sozialgesetzgebung nur bis zu seinen jeweiligen Staatsgrenzen reichte, während die Ordnungskräfte des Landes auch auf den »exterritorialen Sondergebieten« ganz erhebliche Sonderrechte genossen. Was im Klartext bedeutete, daß die Bolos den Staat nichts kosteten, während die Bullen sie voll im Griff hatten, ganz einmal abgesehen davon, daß registrierte Bolobewohner im benachbarten Ausland kein Wahlrecht hatten, waren sie doch de jure Ausländer. Das war der Preis, den die Bolos für ihre Existenz zu zahlen hatten, und alle Bolos, die ihre Ruhe haben wollten, zahlten ihn. Es kam wohl schon vor, daß Bullenspitzel, die sich zu aufdringlich verhielten, ein bißchen verklopft wurden, aber wenn das zu oft vorkam, gab es eben eine Hausdurchsuchung wg. staatsgefährdender Aktivitäten auf dem Boden exterritorialer Sondergebiete, und danach waren die Häuser und Grünanlagen und was sonst noch so zum Leben in diesem speziellen Fall gehören mochte, schlicht und ergreifend rasiert. Checks and balances. Jedem Bolobewohner in Deutschland war das Schicksal des K2-Bolos in Düsseldorf noch lebhaft in Erinnerung. Die Leute dort hatten versucht, aus ihrer Community eine no-go-area für die Bullen zu machen, und das Ergebnis waren eine dreitägige Straßenschlacht und, zusammengerechnet, 126 Jahre Gefängnis gewesen. Eddie interessierte sich im Moment weniger für Politik als für die Frage, wie er wohl unerkannt und unregistriert an dem Plexiglaskabuff vorbei und in das Bolo hineinkommen konnte, er versuchte es auf die dummdreiste. Während er an dem Schilderhäuschen und dem schwarz-rot-goldenen Grenzpfahl vorbeilief, grüßte er lässig in die Richtung des Wachmanns (Bundesgrenzschutz), aber der sah nicht einmal auf, sondern las weiter in seinem Tittenblatt. Eddie bog hinter dem Einfahrtstor bestimmt, aber nicht allzu schnell um die Ecke, er umrundete das ganze Areal, bevor er sich an Tinas Haus heranarbeitete. Beim »Wohlfahrtsausschuß«-Bolo handelte es sich um eine ehemalige Arbeitersiedlung der Volkswagenwerke, die Volkswagenwerke existierten nicht mehr, die Arbeiter existierten nicht mehr, und in ihren Überresten hatten sich also seit fünfzehn Jahren die Leute vom »Wohlfahrtsausschuß« breit gemacht. Manche der kleinen Backsteinhütten waren durch Plexiglasgänge miteinander verbunden, anderen waren ein oder zwei Stockwerke angewachsen; der ehemalige Spielplatz der Depressionen inmitten der Siedlung mit seinen knochenbrecherischen Stahlstangenspielgeräten war zu einem Chaos von zusammengenagelten Brettern mutiert, in dem die Kinder teilweise auch übernachteten, von einer ausgefransten Totenkopfflagge gekrönt, die allerdings im Moment nur sehr träge im Wind lappte. Brombeergestrüpp allewege. Grundsätzlich befahrbare Bahnen zwischen den Häusern. Kein Müll. Irgendwo Feuer. (Eddie konnte das riechen). An Tinas blau gestrichenem Haus war fein säuberlich angepinselt: Baut Hüttendörfer, denn nur die Stämme werden überleben. Er klopfte an die Tür, und lange Zeit geschah nichts.
     
    »Issn das?« fragte der Halbnackte nach rückwärts, nachdem er die Tür geöffnet hatte, und Eddie rief schnell in die verdunkelten Räume hinter dem bleichen Mann hinein: »Eddie. Ich bin’s, Eddie.« Der bleiche Mann musterte Eddie unter trägen Lidern hervor, wie etwas vorerst Unbekanntes, aber sicherlich völlig Langweiliges. Konnte Tina ihn an der Tür aus ihrem Halbdunkel heraus sehen und erkennen? Sie stand mit einem Schlag hinter dem Engerling, schob ihn beiseite (der Mann grunzte ein wenig) und giftete Eddie aus ihren grünen Augen heraus an.
    »WAS willst du?« fragte sie, und die S-Laute klangen seltsam stimmlos und zischend. Tina in ihrer schlechtesten Stimmung. Aus dem Bett getrommelt. Mit einem Lover erwischt. Ganz schlechtes timing.
    »Ich muß mit dir reden«, sagte Eddie, und während er das in der eigenartig kinnwackelnden und backenzitternden Art sagte, die ihn als Kind erst zum Prügelknaben und dann

Weitere Kostenlose Bücher