Wind des Südens
auf, als Raymond durch die Vorhalle der Kanzlei hastete. »Was ist denn geschehen?«
»Der Zyklon in Cairns. Ein Freund von mir wurde getötet.«
»Das tut mir Leid, alter Junge.«
»Der Himmel weiß, wie sie die Sache dort überstehen werden. Er war ein netter Bursche. Hinterlässt eine junge Frau, reizendes Mädchen. Keine Ahnung, wie sie sich finanziell steht. Hier heißt es, ein Großteil der Stadt sei dem Erdboden gleich. Mir ist vor lauter Schreck ganz schwach.«
»Die Sekretärin soll Ihnen einen Tee bringen.«
»Nein, lassen Sie nur. Ich glaube, ich gehe nach Hause. Nein, wahrscheinlich sollte ich besser Sir Lyle …«
Verärgert drehte sich Gordon, der schon in sein Büro hatte zurückkehren wollen, noch einmal um. »Raymond, Sie haben um zehn einen Termin mit einem Mandanten – Mr. Mortensen.«
»O Gott, richtig. Sprechen Sie mit ihm, Gordon. Sie kennen den Fall ja. Ich muss wirklich weg.«
Er schickte sich an, den kleinen Flur entlangzueilen, aber Gordon rief ihn zurück.
»Moment, so geht das nicht. Als Sie mir sagten, Sie wollten Ihren Mandantenstamm reduzieren und sich bald zur Ruhe setzen, war ich einverstanden. Allerdings war mir nicht klar, dass das hieß, Sie würden Termine nicht wahrnehmen und einfach hinausspazieren, wenn es Ihnen beliebt. Das ist absolut unprofessionell, Raymond, und setzt auch mich in ein schlechtes Licht. Ich werde das nicht dulden. Sie sollten besser einen Tag für Ihren Abschied festsetzen und mit diesem Zickzackkurs aufhören. Ich weiß nicht, was plötzlich in Sie gefahren ist, alter Junge.«
Raymond nickte. »Tut mir Leid, Gordon. Sie haben Recht. Ich schaffe es in letzter Zeit einfach nicht, dem Job viel Begeisterung abzugewinnen.«
»Ich habe den Eindruck, dass das schreckliche Erlebnis auf der China Belle Ihnen mehr zugesetzt hat, als Sie ahnen. Seit Ihrer Rückkehr sind Sie nicht mehr derselbe. Schließlich werden Sie auch nicht jünger.«
»Genau das ist es ja! Es liegt nicht an der Meuterei, Gordon, oder an meinen Erfahrungen auf den Goldfeldern, sondern eher an dem Gefühl, dass ich ein langweiliger alter Knacker werde. Verstehen Sie, was ich meine?«
Gordon zuckte die Achseln. »Ich kann nicht behaupten, dass ich großes Verständnis für Ihre Haltung aufbringe. Als Gentlemen müssen wir unsere Pflicht erfüllen. Wir tragen Verantwortung, und wenn wir sie ernst nehmen, kann man das wohl kaum als langweilig bezeichnen.«
»Aber ich habe das Gefühl, dass mir mein Leben davonfliegt …«
»Das geht uns allen so. Aber der Verantwortung aus dem Weg zu gehen ist wohl kaum das Mittel der Wahl. Ich würde ein solches Verhalten eher als ein Abgleiten in eine zweite Kindheit bezeichnen. Ich verlange eine Antwort, Raymond.«
»Also gut. Ich werde versuchen, alles bis zum Ende des Monats … der Woche abzuschließen.«
»Und Mortensen?«
»Meinetwegen. Ich empfange ihn.«
Raymond hatte ein schlechtes Gewissen. Ihm war klar, dass er aufgrund seiner Angewohnheit immer schlechter mit den Anforderungen des Alltags zurechtkam. Deshalb versuchte er, die festgesetzte Tagesration von zwanzig Gran Opium pro Tag nicht zu überschreiten, auch wenn ihm das sehr schwer fiel. Der Plan, sich viermal täglich je fünf Gran zu genehmigen, wurde zumeist von der Versuchung vereitelt, so dass gegen Nachmittag das meiste aufgebraucht war und er Nachschub für den Abend auftreiben musste. Da er im Grunde seines Herzens ein schüchterner Mensch war, war die angenehm träumerische Wirkung des Opiums unwiderstehlich für ihn … ein Schutzwall gegen die Unsicherheit, die ihn stets belastet hatte. Es war allgemein bekannt, dass sein Vater ihm den Sitz im Parlament beschafft hatte, einem Marktplatz der Eitelkeiten, auf dem Raymond nie hatte brillieren können – ebenso wenig wie im Gerichtssaal. Doch damit war es jetzt endgültig vorbei. Fröhlich rief er sich ein paar Zeilen aus dem Chester-Cathedral-Gebet ins Gedächtnis: »Mach, dass ich mich nicht zu viel sorge um das unzulängliche Ding mit dem Namen Ich.«
Es verwunderte ihn immer noch, dass seine »Medizin« ausgerechnet wegen der grässlichen tropischen Geschwüre in sein Leben getreten war.
»Alles hat auch
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