Wind Die Chroniken von Hara 1
der Graue uns noch einmal beehrt und weitere Fragen stellt? Dann vielleicht etwas nachdrücklicher. Wirst du ihm dann die Wahrheit sagen?«
»Das könnte gefährlich sein. Für uns, meine ich. Immerhin wurden wir gut bezahlt, und man lässt die Gilde in Ruhe. Deshalb werde ich nichts sagen.«
»Trotzdem – was, wenn der Graue nicht lockerlässt?«
»Bisher läuft alles nach Plan. Sollte der Graue jedoch anfangen zu bocken, serviere ich seinen Kopf Yokh und streiche die zehntausend Soren ein. Glaub mir, den Grauen zu ermorden, wäre längst nicht so riskant wie ein Streit mit denen.«
»Warum nehmen wir den Grauen und Lahen dann nicht gleich gebührend in Empfang, wenn sie das nächste Mal hier auftauchen? Die Vereinbarung ließe das zu.«
»Weil ich nicht voreilig etwas beenden will, das von so langer Hand vorbereitet wurde. Nein, lass den Grauen und Lahen erst Yokh aus dem Weg räumen. Danach können wir über die Vereinbarung nachdenken.«
»Dann soll es so sein«, sagte Stumpf nach langem Schweigen.
Kapitel
17
Obwohl es hier oben stockfinster war, verzichtete ich lieber darauf, die Kerze aus Lahens Beutel zu nehmen und sie anzuzünden. Das Licht hätte die Tauben aufwecken können, die im Dachstuhl schliefen. Das wiederum würde ein gewaltiges Geflatter auslösen – was zu so später Stunde nur unnötige Aufmerksamkeit auf uns lenkte.
Darauf konnten wir getrost verzichten.
Es stank gewaltig nach Vogeldreck. Über uns gurrten die Tiere, die sich trotz unserer leisen Schritte gestört fühlten. Zum Glück begriffen die dämlichen Flatterer jedoch nicht, dass sie ungebetenen Besuch bekommen hatten. Ich hielt Lahen an der Hand und tastete mich zu dem offenen Fenster vor, durch das wir den Halbmond sehen konnten.
Irgendwann fiel mir mit einem widerlichen Schmatzen etwas auf die rechte Schulter, worauf Lahen sich nicht mehr zu beherrschen vermochte und leise loskicherte. Ich stieß einen gedämpften Fluch aus und sandte ihm jenen Vogel in den Hintern, dem es so meisterlich gelungen war, mir die Jacke zu ruinieren.
»Tut mir leid«, flüsterte mein Augenstern. »Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem dir schon einmal ein solches Missgeschick widerfahren ist? Da haben wir uns kennengelernt.«
Ich schnaubte gutmütig und wäre beinahe über eine hölzerne Meloth-Scheibe gestolpert, die unmittelbar vorm Fenster lag. Abermals fluchend spähte ich hinaus, überzeugte mich, dass alles in Ordnung war, und sprang aufs Dach. Die Ziegel waren solide, so musste ich keine Angst haben einzustürzen. Allerdings sah ich lieber nicht nach unten. Das hier war keine geringe Höhe, immerhin stand ich auf dem zweithöchsten Tempel, der Meloth in Alsgara geweiht war und den noch der Skulptor selbst erschaffen hatte.
Ich streckte Lahen die Hand hin und half ihr hinaus. Vom Meer wehte ein leichter Wind heran, der einen Geruch nach Salz und Jod mit sich brachte. Der Halbmond zog wie ein träger Fisch seine Bahn über den Himmel. Mal verschwand er hinter den niedrigen Wolken, dann zeigte er sich wieder und tauchte das flache Dach des Tempels, die Kuppeln und die sieben Turmhelme in sein fahles, silbriges Licht. Unser Ziel war der dritte Helm rechts von der Hauptkuppel.
»Nur gut, dass sich die Priester hier oben so selten blicken lassen«, bemerkte Lahen lächelnd. »Die würden uns glattweg für Frevler halten.«
»Die sind doch viel zu fett und zu träge, um hier heraufzukraxeln«, antwortete ich. »Außerdem: Was hätten sie hier verloren? Die Glocken sind woanders. Nein, hier kommen höchstens zwei Mal pro Jahr ein paar Arbeiter rauf, um sich zu überzeugen, dass das Dach noch dicht ist.«
»Ist dir auch aufgefallen, dass Moltz die Geschichte mit Shen am liebsten unter den Teppich gekehrt hätte?«
»Hältst du mich eigentlich für einen ausgemachten Idioten? Natürlich habe ich das bemerkt. Und es beunruhigt mich.«
»Aber du hast es ihm durchgehen lassen. Obwohl du ihn hättest zur Rede stellen können.«
»Stimmt, denn er fürchtet dich und deine Gabe. Aber es wäre unklug gewesen, ihm zu drohen, solange du nicht wieder uneingeschränkt über deine Gabe verfügst. Doch ich finde schon noch heraus, wer ihm den Heiler aufs Auge gedrückt hat.«
Unser Helm hatte eine gewaltige, viereckige Grundfläche und lief dreizehn Yard über uns in einen spitzen Kegel aus.
»Wir brauchen die Ostwand«, sagte ich.
»Dann müssen wir auf die gegenüberliegende Seite.«
Jede Seite des Turmhelms maß genau zehn Yard. Wir
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