Wind Die Chroniken von Hara 1
Ascheseele behielt die Hütte im Auge. Sobald sie ihre Nase zur Tür herausstreckten, würden sie mit Pfeilen gespickt werden.
Ga-nor hatte sich zwar mit seinem Sprung fürs Erste gerettet, das könnte sich jedoch schnell ändern, wenn dieses Mistvieh den Standort wechselte. Ohne den Kopf zu heben und dicht an die Wand gepresst, kroch er über den Boden in eine Ecke, in der ihn kein Pfeil mehr erreichen würde.
Als er sich wieder aufsetzte und Luks besorgten Blick auffing, grinste er bloß schief.
»Wann hat sie das Warten wohl satt?«, wollte Luk wissen, wobei Ga-nor beruhigt bemerkte, dass in der Stimme des anderen keine Panik mitschwang und er die Waffe fest gepackt hielt.
Alle Achtung.
»Das hängt davon ab, wie lange sie schon hier ist und worauf sie hofft.«
»Auf unsere Skalps. Keine Ahnung, wie es dir geht, aber ich würde mich ungern von meinem Haupthaar trennen.«
»Kein Wunder, so wenig wie du davon noch hast.«
»Mal ernsthaft«, erwiderte Luk ruhig. »Was machen wir jetzt?«
»Erst mal in Ruhe über alles nachdenken.«
Wie sollten sie ohne Armbrust eine Ascheseele töten? Sie bräuchten bloß die Hütte zu verlassen, und dieses Monster würde sie abschießen wie zwei Rebhühner. Tür und Fenster schieden also aus, denn beides käme einem Selbstmord gleich. Und auch das Dach mussten sie vergessen.
Ascheseelen waren vorzügliche Bogenschützen. Gut, die Menschen oder die Nirithen aus Bragun-San mochten die legendären Schützen in puncto Zielgenauigkeit mitunter in den Schatten stellen – niemals aber, wenn es um die Schlagkraft ging. Die Pfeile der Ascheseelen bohrten sich mit genauso großer Wucht durch sämtliche Rüstungen, die die Schmiede dieser Welt geschaffen hatten, wie die Geschosse aus Streitarmbrüsten.
Bereits vor dem Krieg der Nekromanten hatten es die Truppen des Imperiums oft genug mit Ascheseelen zu tun bekommen. Und mehr als einmal waren aus diesen Begegnungen nicht die Menschen als Sieger hervorgegangen, weshalb sich im Imperium auch heute noch alle an die schrecklichen Bogenschützen erinnerten, auch wenn diese sich schon lange nicht mehr in ihm gezeigt hatten. Sollte jedoch auch nur ein Körnchen Wahrheit in den Schauergeschichten, die man über sie erzählte, stecken, stünde Luk und Ga-nor eine harte Auseinandersetzung bevor.
»Kann dieses Viech reinkommen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Ga-nor. »Aber warum sollte es – es sei denn, das Biest ist ein ausgemachter Dummkopf. Achte aufs Dach! Wenn er uns durch das Loch beschießt, sind wir erledigt.«
»Da platzt doch die Kröte, achte von mir aus selbst drauf!« Luk packte mit entschlossener Miene sein Beil. »Ich habe jedenfalls nicht die Absicht, für dieses Aas die Zielscheibe abzugeben.«
Bevor der Irbissohn auch nur fragen konnte, was Luk zu tun beabsichtigte, fing dieser an, auf den Boden einzuhacken. Das Beil schoss auf und nieder und spaltete mühelos die alten Dielen. Schon nach wenigen Minuten klaffte ein Loch im Boden, durch das sie durchpassten.
Während der Arbeit schnaufte Luk und geriet in Schweiß, doch sein gutmütiges Gesicht strahlte vor Glück. »Mein Vater war auch Jäger«, erklärte er. »Unter solchen Hütten liegt immer eine Grube. Die ist ein oder zwei Yard tief. Im Winter bewahren die Leute dort Nahrungsvorräte auf. Der eigentliche Einstieg befindet sich unterm Fenster, bis dahin schaffen wir es nicht, aber durch dieses Loch …«
»Und dann?«, wollte Ga-nor zweifelnd wissen. »Sollen wir jetzt etwa in dieser Grube hocken?«
»Nicht wir, sondern du.« Kaum sah Luk, wie sich die roten Brauen Ga-nors wütend zusammenzogen, fügte er rasch hinzu: »Ich erledige dieses Monster nicht, du aber schon.«
»Wie komme ich denn bitte schön aus der Grube raus? Indem ich einen Gang nage?«
»Das ist nicht nötig. Die Hütte steht auf Pfählen, musst du wissen. Zwischen denen sind Bretter angenagelt, aber die sind alle morsch. Es kostet also nicht viel Kraft, sie durchzuhacken.«
»Und während ich mich da unten abplage, machst du es dir hier oben gemütlich?«
»Hör zu, ich will mich wirklich nicht drücken, aber wie soll ich mich an diese Kreatur heranpirschen? Die würde mich doch aus einer League Entfernung hören!«
Daraufhin ließ sich Ga-nor den Plan ernsthaft durch den Kopf gehen. Immerhin bot sich hier ein Ausweg. Die Sache war zwar riskant, aber ihnen blieb nur die Wahl, es zu wagen oder Hungers zu sterben. Möglicherweise würde die Ascheseele ja auch Verstärkung erhalten.
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