Wind (German Edition)
wie Dreck.
Tim gab auf, deckte den Koffer wieder mit der alten Wolldecke zu und zog und zupfte daran herum, bis alles wieder ungefähr so aussah wie zuvor. Vielleicht würde das genügen. Er hatte oft gesehen, wie sein Stiefvater den Koffer tätschelte oder sich auf ihn setzte, aber Big Kells öffnete ihn nur selten – und auch dann nur, um seinen Wetzstahl herauszuholen. Der Diebstahl konnte für gewisse Zeit unentdeckt bleiben, aber Tim wusste, dass er nicht hoffen durfte, das werde ewig so bleiben. Irgendwann würde der Tag kommen – vielleicht erst nächsten Monat, eher jedoch nächste Woche (oder vielleicht schon morgen! ) –, an dem Kells beschließen würde, seinen Wetzstahl zu benutzen, oder sich erinnern würde, dass er eigentlich noch mehr Kleidung besaß, als er derzeit welche trug. Er würde entdecken, dass der Koffer aufgesperrt war; er würde sofort nach dem Hirschlederbeutel greifen und feststellen, dass die Münze daraus verschwunden war. Und dann? Seine neue Frau und sein Stiefsohn würden Prügel beziehen. Wahrscheinlich würden sie grün und blau geschlagen werden.
Davor hatte Tim Angst, aber als er die vertraute Glücksmünze aus Rotgold an ihrer Silberkette anstarrte, war er auch zum ersten Mal in seinem Leben wirklich zornig. Und es war nicht etwa die ohnmächtige Wut eines Jungen, sondern echter Männerzorn.
Er hatte Old Destry nach Drachen gefragt – und was sie einem Mann antun könnten. Tat es weh? Würden … nun … Teile übrig bleiben? Der Farmer hatte Tims Kummer gesehen und ihm freundlich einen Arm um die Schultern gelegt. »Zu beidem sage ich nar, mein Sohn. Drachenfeuer ist das heißeste Feuer, das es gibt – noch heißer als der flüssige Fels, der südlich von hier manchmal aus Erdspalten quillt. Das bestätigen alle Überlieferungen. Jemand, der in den feurigen Atem eines Drachen gerät, verbrennt in weniger als einer Sekunde zu feinster Asche: Kleidung, Stiefel, Gürtelschnalle und so weiter. Wenn du also eigentlich wissen willst, ob dein Da’ gelitten hat, dann kann ich dich beruhigen. Für ihn war’s mit einem Lidschlag vorbei.«
Kleidung, Stiefel, Gürtelschnalle und so weiter. Aber die Glücksmünze von seinem Da’ sah so aus wie immer, sie war nicht mal rußig oder angelaufen, auch alle Glieder der Silberkette waren intakt. Aber er hatte sie kein einziges Mal abgelegt, nicht mal zum Schlafen. Was war Big Jack Ross also zugestoßen? Und wieso hatte sein Glücksbringer in Kells’ Koffer gelegen? Tim hatte einen schrecklichen Verdacht … und glaubte jemand zu kennen, der diesen Verdacht bestätigen oder aus der Welt schaffen konnte. Vorausgesetzt Tim war tapfer.
Komm nachts, denn meiner Mutter Sohn schläft am liebsten tagsüber, wenn sich eine gute Gelegenheit dazu bietet.
Jetzt war es Nacht, oder schon beinahe.
Seine Mutter schlief noch. Neben ihrer Hand ließ Tim seine Schiefertafel zurück. ICH KOMME WIEDER. MACH DIR KEINE SORGEN UM MICH , hatte er darauf geschrieben.
Natürlich hat es nie einen Jungen gegeben, der begriffen hätte, wie nutzlos diese Aufforderung sein musste, wenn sie an eine Mutter gerichtet war.
Tim wollte nichts mit Kells’ Maultieren zu tun haben, denn sie waren störrisch und übellaunig. Die beiden, die sein Vater aus Fohlen großgezogen hatte, waren das genaue Gegenteil. Misty und Bitsy waren Mollies, unsterilisierte Stuten, die theoretisch Fohlen bekommen konnten, aber Ross hatte sie so belassen, damit ihr Charakter freundlich blieb, und nie daran gedacht, sie zu Zuchtzwecken zu benutzen. »Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen«, hatte er Tim erklärt, als dieser alt genug war, nach solchen Dingen zu fragen. »Tiere wie Misty und Bitsy sind nicht zur Zucht bestimmt und haben fast niemals reinrassige Nachkommen, wenn sie welche zur Welt bringen.«
Tim entschied sich für Bitsy, die schon immer seine Favoritin gewesen war, führte sie am Zaum auf die Straße hinaus und saß ohne Sattel auf. Seine Füße, die bis halb zum Boden gereicht hatten, als sein Da’ ihn das erste Mal auf das Maultier gesetzt hatte, berührten jetzt fast den Erdboden.
Bitsy stapfte anfangs mit trübselig hängenden Ohren dahin, aber als der Donner nachließ und der Regen zu einem Nieseln wurde, wirkte sie gleich munterer. Sie war es nicht gewohnt, nachts unterwegs zu sein, aber seit Big Ross’ Tod waren Misty und sie viel zu häufig eingesperrt gewesen, sodass sie …
Vielleicht ist er nicht tot.
Dieser Gedanke stieg aus Tims Unterbewusstsein auf
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