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Wind (German Edition)

Wind (German Edition)

Titel: Wind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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halber kleiner Finger, und in Tims Hand war es seltsam warm, so als wäre es lebendig. Das Schlüsselloch des Messingschlosses auf der Vorderseite des Koffers war viel größer. Mit dem Schlüssel lässt es sich unmöglich aufsperren, dachte Tim. Dann erinnerte er sich daran, was der Zöllner zu ihm gesagt hatte: Es ist ein Zauberschlüssel. Er sperrt alles auf, aber nur ein einziges Mal.
    Tim steckte den Schlüssel ins Schloss und hörte ihn mit einem Klicken einrasten, als wäre er von Anfang an für diesen Zweck bestimmt gewesen. Mit leichtem Druck ließ sich der Schlüssel mühelos drehen, aber während er das tat, verschwand die Wärme. Tim hatte jetzt nur noch kaltes, unbelebtes Metall zwischen den Fingern.
    »Danach ist er wertlos wie Dreck«, flüsterte Tim, als er sich umsah, weil er irgendwie erwartete, dort Big Kells stehen zu sehen: mit finsterer Miene, gespreizten Beinen und zu Fäusten geballten Händen. Aber dort stand niemand, also öffnete er die Schnallen der Lederriemen und hob den Kofferdeckel hoch. Beim Quietschen der Scharniere fuhr er zusammen und sah sich deshalb nochmals um. Sein Herz hämmerte wie wild, und obwohl es an diesem regnerischen Abend recht kühl war, konnte er einen Schweißfilm im Nacken spüren.
    Obenauf lagen Hosen und Hemden, alle durcheinander, die meisten schmutzig und zerlumpt. Tim sagte sich (mit bitterem Groll, der gänzlich neu für ihn war): Es ist meine Mama, die sie waschen, flicken und ordentlich zusammenlegen wird, sobald er das von ihr verlangt. Und wird er es ihr mit einem Schlag auf den Arm oder einem Boxhieb an den Hals oder ins Gesicht danken?
    Er nahm die Kleidungsstücke heraus und entdeckte darunter das, was den Koffer so schwer machte: Kells’ Vater war ein Tischler gewesen, und das hier war sein Werkzeug. Tim brauchte keinen Erwachsenen, der ihm sagte, dass es wertvoll war – immerhin bestand es aus Metall. Er hätte es verkaufen können, um die Steuer zu bezahlen; er benutzt es sowieso nie. Kann bestimmt nicht mal damit umgehen. Er hätte es an jemand verkaufen können, der es kann – Haggerty, den Zimmerer, zum Beispiel –, und dann die Steuer bezahlen und obendrein einen schönen Batzen Geld übrig behalten können.
    Für Leute, die sich so verhielten, gab es ein Wort, das Tim dank dem Unterricht bei Witwe Smack kannte. Es hieß Geizhals .
    Er wollte den Werkzeugkasten herausheben, was ihm aber nicht gleich gelang. Der Kasten war zu schwer. Tim nahm die Hämmer und die Schraubenzieher und den Wetzstahl heraus und legte sie auf die Kleidungsstücke. Danach schaffte er es. Unter dem Kasten lagen fünf Axtköpfe, bei deren Anblick sich Big Ross erstaunt und verständnislos mit der flachen Hand an die Stirn geschlagen hätte. Der kostbare Stahl war mit Rostflecken gesprenkelt, und Tim brauchte die Klingen nicht mit dem Daumen zu prüfen, um zu sehen, wie stumpf sie waren. Nells neuer Ehemann schliff gelegentlich die Axt, mit der er arbeitete, aber mit diesen hatte er sich schon lange nicht mehr abgegeben. Brauchte er sie irgendwann einmal, würden sie wohl unbrauchbar sein.
    In einer der Kofferecken steckten ein kleiner Hirschlederbeutel und ein Gegenstand, der in ein Stück feinstes Wildleder gewickelt war. Tim griff danach, wickelte ihn aus und hielt das Porträt einer sanft lächelnden Frau in den Händen. Ihre dunkle Mähne fiel bis auf die Schultern herab. Tim konnte sich nicht an Millicent Kells erinnern – er war erst drei oder vier gewesen, als sie zu der Lichtung gegangen war, auf der wir uns dereinst alle versammeln werden –, aber er wusste, dass sie das sein musste.
    Tim wickelte das Bild wieder ein, steckte es zurück und griff nach dem kleinen Lederbeutel. Er schien nur einen einzigen Gegenstand zu enthalten, der aber ziemlich schwer war. Tim öffnete die Zugschnur und stürzte den Beutel. Im selben Augenblick ließ ein weiterer Donnerschlag das Haus erzittern. Tims Hand zuckte unwillkürlich, und der Gegenstand, der tief in Kells’ Koffer versteckt gewesen war, fiel aus dem Lederbeutel in seine Hand.
    Es war die Glücksmünze seines Vaters.

Tim legte alles außer der Glücksmünze seines Vaters in den Koffer zurück, stellte den leeren Werkzeugkasten hinein, füllte ihn wieder mit dem zuvor herausgenommenen Werkzeug und warf zuletzt die Kleidungsstücke darüber. Er schnallte die Riemen wieder zu. Alles recht und gut, aber als er abzuschließen versuchte, drehte der silberne Schlüssel sich, ohne die Zuhaltungen zu erfassen.
    Wertlos

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