Wind (German Edition)
stand er wieder auf festem Boden und sah benommen zu dem weißen Gesicht mit den lächelnden, krapproten Lippen auf. In den Tiefen seiner Hosentasche brannte der kleine Schlüssel. Hoch über dem Haus erklang ein Donnerschlag, und auf einmal regnete es.
»Die Baronie dankt euch«, sagte der Zöllner und tippte sich mit einem behandschuhten Finger an die breite Hutkrempe. Dann warf er seinen Rappen herum und verschwand in den Regenschleiern. Das Letzte, was Tim von ihm sah, war etwas seltsam: Als der schwere Mantel von einem Windstoß angehoben wurde, sah er einen großen Gegenstand, der oben auf der Gunna des Zöllners festgebunden war. Das Ding sah wie eine Waschschüssel aus.
Big Kells kam die Stufen herabgepoltert, packte Tim an den Schultern und schüttelte ihn. Der Regen ließ Kells’ schütter werdendes Haar an seinem Gesicht kleben und tropfte aus seinem Vollbart. Der bei seiner Hochzeit mit Nell noch pechschwarze Bart war jetzt mit auffälligen grauen Strähnen durchsetzt.
»Was hat er dir erzählt? Hat er von mir gesprochen? Welche Lügen hat er erzählt? Sag schon! «
Tim konnte nichts antworten. Sein Kopf flog so heftig vor und zurück, dass ihm die Zähne klapperten.
Nell lief die Stufen herab. »Hör auf! Lass ihn in Ruhe! Du hast mir versprochen, ihn nie …«
»Misch dich nicht ein, wenn’s dich nichts angeht, Weib«, sagte er und schlug sie mit dem Handrücken beiseite. Tims Mutter fiel auf den Weg, auf dem der strömende Regen jetzt die Hufspuren des Pferdes des Zöllners ausfüllte.
»Du Dreckskerl! «, schrie Tim empört. »Du darfst meine Mama niemals schlagen, niemals! «
Er spürte keinen unmittelbaren Schmerz, als Kells’ Pranke ihn mit einem weiteren Rückhandschlag traf, aber vor seinen Augen zuckten weiße Blitze, die ihm die Sicht raubten. Als er wieder klar sehen konnte, lag er neben seiner Mutter im Schlamm. Er war benommen, er spürte ein Sausen in den Ohren, und der Schlüssel in seiner Hosentasche brannte immer noch wie ein Stück glühender Kohle.
»Der Nis soll euch beide holen«, knurrte Kells und stiefelte in den Regen davon. Nach dem Tor wandte er sich nach rechts, wo die kleine Hauptstraße von Tree lag. Er wollte zum Gitty’s, daran hatte Tim keinen Zweifel. Er hatte die ganze letzte Vollerde lang keinen Alkohol angerührt – zumindest nach Tims Wissen nicht –, aber heute Abend würde er sich betrinken. Das sorgenvolle Gesicht seiner Mutter – vom Regen nass, das Haar in Strähnen über ihrer geröteten Wange – sagte Tim, dass sie das ebenfalls wusste.
Er schlang einen Arm um ihre Taille, sie legte ihm ihren um die Schultern. So stiegen sie langsam die Verandastufen hinauf.
Nell sank nicht etwa auf ihren Stuhl am Küchentisch, sondern brach geradezu darauf zusammen. Tim goss Wasser aus der Kanne in die Schüssel, machte ein Tuch nass und legte es ihr sanft auf die angeschwollene Wange. Nell drückte es eine Zeit lang an ihr Gesicht, dann hielt sie es wortlos ihrem Sohn hin. Er griff da nach, um ihr einen Gefallen zu tun, und hielt es an seine Wange. Das feuchte, kühle Tuch war gegen die pochende Hitze wohltuend.
»Eine schöne Geschichte, was?«, sagte sie mit gespielter Heiterkeit. »Frau geschlagen, Junge vermöbelt, neuer Ehemann auf Sauftour unterwegs.«
Tim wusste nicht, was er dazu sagen sollte, also hielt er lieber den Mund.
Nell stützte den Kopf in die Hände und starrte die Tischplatte an. »Ich hab leider alles gründlich versiebt, Tim. Ich hatte Angst vor der Zukunft und war mit meiner Weisheit am Ende, aber das ist keine Entschuldigung. Auf Wanderschaft wären wir besser dran, glaub ich.«
Aus ihrem Haus vertrieben? Von ihrer Parzelle verjagt? Genügte es nicht, dass Axt und Glücksmünze von seinem Da’ verloren gegangen waren? In einem Punkt hatte sie allerdings recht – es war alles ein Schlamassel.
Aber ich habe einen Schlüssel, dachte Tim, und seine Finger stahlen sich in die Hosentasche, um die Umrisse des Schlüssels zu ertasten.
»Wohin ist er?«, fragte Nell, und Tim hörte an ihrem Ton, dass sie nicht von Bern Kells sprach.
Ein bis zwei Räder weit den Eisenholzpfad entlang. Wo er auf mich warten wird.
»Das weiß ich nicht, Mama.« Soviel er sich erinnern konnte, war dies das erste Mal, dass er sie angelogen hatte.
»Aber wir wissen, wo Bern hingegangen ist, nicht wahr?« Sie lachte, dann zuckte sie leicht zusammen, wohl weil ihr das Lachen im Gesicht Schmerzen verursachte. »Er hat Milly Redhouse versprochen, nie mehr zu
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