Wind (German Edition)
ein. Die Paddler nahmen ihren Platz ein. Das Essen und der Wasserschlauch wurden an Bord gereicht; das kleine Lederetui mit dem Kompass (falls es einer war) hatte Tim im Baumwollbeutel der Witwe verstaut. Der Vierschüsser steckte an der linken Hüfte in seinem Gürtel, wo er ein Gegengewicht zu der Handaxt auf der rechten Seite bildete.
Einige Zeit ging es mit Heilrufen hin und her, dann trat Großmann – den Tim für den eigentlichen Häuptling hielt, obwohl Steuermann das große Wort geführt hatte – an das Boot. Er stand am Ufer und betrachtete Tim ernst. Dann richtete er zwei Finger auf seine Augen: Achte auf mich.
»Ich sehe Euch sehr wohl.« Und das tat Tim, obwohl seine Lider allmählich schwer wurden. Er wusste gar nicht mehr, wann er zuletzt geschlafen hatte. Letzte Nacht jedenfalls nicht.
Großmann schüttelte den Kopf und wiederholte die Geste mit den zwei Fingern – dieses Mal nachdrücklicher –, und Tim schien tief in seinem Verstand (vielleicht sogar in seiner Seele, diesem winzigen glänzenden Splitter Ka ) ein Flüstern zu hören. Das brachte ihn erstmals auf den Gedanken, dass es nicht seine gesprochenen Worte waren , die diese Sumpfbewohner hörten.
»Ich soll aufpassen?«
Großmann nickte; die anderen murmelten zustimmend. Keiner lachte mehr oder war fröhlich; alle wirkten sorgenvoll und eigenartig kindlich.
»Worauf aufpassen?«
Großmann ließ sich auf alle viere nieder und drehte sich schnell im Kreis. Dabei knurrte er jedoch nicht, sondern ließ wie ein Hund ein helles Blaffen hören. Zwischendurch hielt er mehrmals inne, hob den Kopf in die nördliche Richtung, die das Gerät angezeigt hatte, und blähte seine grün zugewachsenen Nüstern, als witterte er dort etwas. Dann sprang er wieder auf und sah Tim fragend an.
»Alles klar«, sagte Tim. Er wusste zwar nicht, was Großmann eigentlich auszudrücken versuchte – oder weshalb jetzt alle so niedergeschlagen wirkten –, aber er würde auf der Hut sein. Er würde wissen, was Großmann ihm so angestrengt vorzuführen versucht hatte, sobald er es sah. Dann würde er es vielleicht auch verstehen. Es war offenbar wichtig.
»Sai, hört Ihr meine Gedanken?«
Großmann nickte. Auch alle anderen nickten.
»Dann wisst Ihr ja auch, dass ich gar kein Revolvermann bin. Ich hab einfach nur versucht, mir selbst Mut zu machen.«
Großmann schüttelte den Kopf und lächelte, als wäre das nicht weiter wichtig. Er wiederholte die Aufmerksamkeit fordernde Geste, dann schlang er die Arme um seinen mit Geschwüren bedeckten Oberkörper und begann übertrieben zu zittern. Alle anderen – sogar die schon im Boot sitzenden Paddler – taten es ihm gleich. Wenig später ließ Großmann sich zu Boden fallen (der unter seinem Gewicht quatschte) und stellte sich tot. Auch das imitierten die anderen. Tim starrte den vermeintlichen Leichenhaufen sprachlos an. Schließlich erhob Großmann sich wieder. Er sah Tim in die Augen. Sein Blick fragte, ob er verstanden habe, und Tim befürchtete, dass er nur allzu gut begriffen hatte.
»Soll das heißen …«
Er merkte, dass er den Satz nicht zu Ende bringen konnte, zumindest nicht laut aussprechen. Die Frage war zu schrecklich.
(Soll das heißen, dass ihr alle sterben werdet?)
Großmann, der ihm weiter ernst in die Augen sah, nickte … und lächelte dabei trotz allem ein wenig. Dann bewies Tim, dass er wirklich kein Revolvermann war. Er brach in Tränen aus.
Steuermann stieß das Boot mit einer langen Stange ab. Die Paddler an Backbord drehten es, und sobald sie offenes Wasser vor sich hatten, bedeutete Steuermann ihnen mit beiden Händen, nun sollten alle paddeln. Tim, der im Heck saß, klappte den Deckel des Proviantkorbs auf. Er aß etwas, weil sein Magen danach verlangte, aber nur wenig, weil ihm eigentlich der Appetit vergangen war. Als er anbot, den Korb herumgehen zu lassen, lehnten die Paddler grinsend ab. Das Gewässer lag ruhig vor ihnen, und beim einschläfernden Rhythmus des Paddelns fielen Tim bald die Augen zu. Er träumte, seine Mutter rüttele ihn wach und sage, es sei längst heller Tag, und wenn er weiter Schlafmütze spiele, komme er zu spät, seinem Vater beim Einspannen der Mollies zu helfen.
Dann lebt er also?, fragte Tim, und diese Frage war so absurd, dass Nell lachte.
Er wurde wach gerüttelt, das geschah wirklich, aber nicht von seiner Mutter. Es war Steuermann, der sich über ihn beugte, und der Mann stank so grässlich nach Schweiß und fauligem Laub, dass Tim ein Niesen
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