Windbruch
wieder wurde sie dann von einer
riesigen, eisig kalten Welle erfasst, unkontrolliert herumgeschleudert und
schließlich wie durch die Arme einer Riesenkrake in die Tiefe gerissen, wo es
dunkler war als in der dunkelsten Nacht. Und dann war da plötzlich dieser Mann,
der ihr was ins Ohr raunte, der sie aufforderte, irgendwas zu tun. Aber es war,
als würde er eine ihr völlig fremde Sprache sprechen. Sie versuchte verzweifelt,
den Inhalt seiner Worte zu erfassen, aber es gelang ihr nicht. Und dann tat er
ihr weh. Sie wusste nicht, womit, aber es schmerzte ganz scheußlich, an den
Armen, an den Beinen, am Rücken, am Kopf.
Doch auch wenn sie wach wurde
hatte sie Angst. Denn in ihrem Kopf herrschte eine absolute Leere. Sie
versuchte sich zu erinnern, die Fragen ihrer Eltern und Geschwister zu beantworten,
aber sie konnte es nicht. Alles war wie weggewischt. Das, was sie über das
furchtbare Unglück wusste, hatte man ihr erzählt. Oder nicht? Nach all den
Schauergeschichten wusste sie nicht mehr, woran sie sich tatsächlich erinnerte
und woran sie nur meinte, sich zu erinnern, weil ihr über bestimmte Dinge so
eindrücklich und bildhaft berichtet worden war, dass sie später glaubte, es genauso
erlebt zu haben.
Die Ärzte und Schwestern baten
ihre Besucher immer, nicht allzu viel mit ihr über das Unglück zu sprechen, es
würde sie zu sehr aufregen. Das tat es auch. All diese Toten! Aber dennoch
wollte sie ganz genau wissen, was passiert war, ansonsten hätte sie
wahrscheinlich doch nur Stunde um Stunde darüber nachgegrübelt und ihre zahlreichen
Fragen wären unbeantwortet geblieben - was sie wahrscheinlich noch mehr unter
Stress gesetzt hätte als die Wahrheit. Nur wenige ihrer Kollegen hatten die Katastrophe
überlebt, und sie hatte keine Ahnung, warum es ausgerechnet ihr gelungen war,
am Leben zu bleiben. Sie musste einen Schutzengel gehabt haben. Die Ärzte
sagten, sie habe ihr Überleben wahrscheinlich nur ihrer guten körperlichen
Konstitution zu verdanken. Nun, dachte sie bitter, da hatte sich ihr intensives
Sportprogramm, mit dem sie sich seit Jahr und Tag mehrmals die Woche kasteite,
doch endlich mal ausbezahlt.
Und dann war da Maarten. Ihre
Mutter, die vor lauter Freude, dass ihre Tochter wieder bei ihr war, immer
wieder in Tränen ausbrach, hatte ihr erzählt, dass Maarten jeden Tag und
manchmal auch nachts an ihrem Bett gesessen, mit ihr gesprochen oder ihr etwas
vorgelesen hatte. Und auch seit sie wieder wach war, kam er in jeder freien Minute
zu ihr. Gerade erst war er wieder gegangen, um zur Trauerfeier zu gehen, die an
diesem Mittag in der Neuen Kirche stattfinden sollte. Gerne wäre sie auch
selbst dabei gewesen, um sich von ihren toten und vermissten Kolleginnen und Kollegen
zu verabschieden, ihnen einen letzten stillen Gruß zu senden. Aber ihre
diesbezügliche Bitte war bei den Ärzten auf taube Ohren gestoßen.
Und so lag sie hier, ganz
alleine, und dachte über das nach, was ihr Leben so überraschend auf den Kopf
gestellt hatte. Nichts würde mehr so sein wie zuvor. Jeden Tag würde sie für
den Rest ihres Lebens an dieses grauenhafte Ereignis denken müssen, da war sie
sich ganz sicher. Vielleicht würde der Gedanke an die Toten, die einen so
grausamen und überflüssigen Tod hatten sterben müssen, eines Tages nicht mehr
ganz so schmerzen, wie er es jetzt tat. Vielleicht würde die tiefe Wunde in
ihrer Seele, die ihr bei jedem Atemzug fast körperliche Schmerzen bereitete,
eines Tages verheilen. Aber es würden Narben bleiben, tiefe Narben, und sie würde
sich fragen, warum ausgerechnet sie es war, die leben durfte, während es so
vielen anderen nicht vergönnt war, jemals wieder einen Atemzug zu tun.
Am allermeisten trauerte sie um
Steffen Rautschek, denn ihn hatte sie am besten gekannt. Mit ihm hatte sie sich
immer freundschaftlich verbunden gefühlt, er war einfach ein toller und stets
freundlicher Kollege gewesen. Mit Wärme und Dankbarkeit erinnerte sie sich an
die Nacht, als er sie beim Kopieren der Pläne erwischt und so getan hatte, als
hätte er nichts bemerkt. Und nun war er innerhalb kürzester Zeit bereits der
zweite Ingenieur, der ihrem Team auf so grauenvolle Weise verloren ging. Auch
Maarten schien Steffens Tod ziemlich mitzunehmen, denn er druckste immer nur so
komisch herum, wenn die Sprache auf ihn kam und gab auf ihre Fragen nach den
Umständen seines Todes nur ausweichende Antworten.
Tomke hatte sich gerade
entschlossen, noch ein wenig zu schlafen und die Schwester
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