Windbruch
„Ich
... ich wusste ja nicht ...“, krächzte sie und hörte das Blut in ihren Ohren
rauschen.
Georg grinste breit. Nun hatte er
sie. „Du hast ihn umgebracht, Tomke“, setzte er noch eins drauf, und in Tomkes
Kopf klang dieser Satz wie der immer wiederkehrende krachende Hieb eines
Vorschlaghammers. Du hast ihn umgebracht, Tomke, Du hast ihn umgebracht, Tomke,
Du hast ihn umgebracht, Tomke ...
Tomke merkte nicht mehr, wie sie
laut anfing zu schreien und um sich zu schlagen. Als die Krankenschwester ihr
Zimmer betrat, war Georg bereits gegangen, und nichts deutete mehr darauf hin,
dass irgendetwas Außergewöhnliches passiert war. Die Schwester konnte sich
Tomkes plötzlichen Ausbruch nicht erklären und rief einen Arzt herbei.
50
Maarten saß still an Tomkes Bett
und hielt ihre Hand. Die Schwester hatte ihm gesagt, Tomke habe aus dem Nichts
heraus einen Schreianfall bekommen und man habe ihr eine Beruhigungsspritze
geben müssen. Vermutlich hänge ihr plötzlicher Ausbruch mit den traumatischen
Erfahrungen zusammen, die sie habe machen müssen. Das käme schon mal vor.
Nach der Trauerfeier hatte
Maarten sich wieder auf den Weg ins Krankenhaus gemacht, denn er hatte Tomke
versprochen, ihr davon zu berichten. Natürlich hatte er ihr zunächst gesagt,
dass er das für keine gute Idee halte, schließlich sei das Ereignis ganz
bestimmt nicht dazu angetan, sie in ihrer Erholung zu unterstützen, aber sie hatte
darauf bestanden. Ich kann die Sache nur verarbeiten, wenn ich mich mit ihr
auseinandersetze, hatte sie gesagt und ihn bittend angeschaut. Also hatte
er nachgegeben. Und nun saß er hier und sie war, aus welchem Grund auch immer,
nicht ansprechbar.
Es war ganz furchtbar gewesen.
Erst während der Trauerfeier war Maarten wirklich bewusst geworden, welch
schreckliche Tragödie sich vor Borkum an der Windlady II ereignet hatte.
Natürlich hatte er in den vergangenen zehn Tagen über fast nichts anderes mehr
nachgedacht. Aber in dieser großen Kirche zu stehen, von Angesicht zu Angesicht
mit den Angehörigen der nunmehr fünfzehn geborgenen Opfer, hatte ihm erst vor
Augen geführt, welch unfassbares Leid über so viele Menschen hereingebrochen
war. Zumeist junge Familien waren brutal auseinander, lebensfrohe Menschen von
einem Moment auf den anderen aus der Mitte ihres Freundeskreises und geschätzte
Kolleginnen und Kollegen aus ihrem beruflichen Umfeld gerissen worden.
Hunderte trauernde Menschen
hatten den Weg in die Neue Kirche gefunden, um Abschied zu nehmen. Noch jetzt,
Stunden später, spürte Maarten die nahezu gespenstige Stille in dem hohen
Gewölbe der Kirche als schwere Last auf seinen Schultern liegen. Er hatte das
Gefühl gehabt, vom unsagbaren Leid der Menschen, die sich vor den fünfzehn, in
Reihe aufgestellten Särgen mit tränenverschleierten Augen verneigten, erdrückt
zu werden. Wie viel Schmerz konnte ein Mensch ertragen, hatte er sich beim
Anblick der Mütter, Väter, Ehepartner und Kinder gefragt, die, von den Tagen
der Trauer gezeichnet, mit leeren Gesichtern der Trauerzeremonie folgten.
Nachdem der Pfarrer Worte des
Trostes und der Hoffnung gefunden hatte, war Innenminister Ralf Hünemann
sichtlich bewegt ans Mikrofon getreten und hatte eine lückenlose Aufklärung des
Unglücks versprochen. In seiner Ansprache waren die Worte unverantwortliche
Schlamperei , Profitgier und Machtgeilheit ebenso gefallen wie Demut vor den Kräften der Natur und Rückbesinnung auf Werte und
Tugenden . Und wenn Maarten nicht alles täuschte, war Hünemanns Blick dabei
mehrfach zu Hayo Rhein gewandert, der mit teilnahmslosem Gesichtsausdruck in
der ersten Reihe gestanden und sich, zum Unverständnis aller, bereits im Vorfeld
geweigert hatte, im Namen der Unternehmensführung ein paar Worte zu sprechen.
Das hatte dann der Vorsitzende des Betriebsrates übernommen, denn Naumann, dem
man ja inzwischen die wissentliche Unterstützung bei der Manipulation der
Konstruktionspläne nachgewiesen hatte, war von den Angehörigen seiner Opfer
unmissverständlich aufgefordert worden, sich nicht in der Kirche blicken zu
lassen, ansonsten könne es passieren, dass das Haus Gottes durch eine Gewalttat
entweiht würde.
Nach der Trauerfeier hatte
Maarten nicht gleich zu Tomke fahren wollen, da er das Gefühl hatte, sie mit
seiner negativen Stimmung nicht belasten zu dürfen. Also war er mit Franziska
an die Knock gefahren, hatte sich mit ihr in ein Restaurant gesetzt, und sie
hatten meist schweigend den Wellen zugeschaut,
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