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Windkämpfer

Windkämpfer

Titel: Windkämpfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Redick
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Schiff war bereits vergessen: Der Falke schoss wie ein Pfeil in die schwarzen Wolken, wandte sich nach Westen und trotzte mit schrillen Schreien dem Wind. Regentropfen versprühend, glücklich darüber, unterwegs zu sein, gewann er an Höhe, bis Land und Meer vollends unter den Wolken verschwanden, und stieg auch dann noch weiter. Endlich brach er durch ins Sonnenlicht und glitt dicht über der wilden, dumpfen Wolkenlandschaft dahin, als wäre sie sein Reich.
    Den ganzen Tag lang flog der Vogel westwärts, der Rhythmus seiner Flügelschläge veränderte sich kaum. Gegen Abend verfolgte ihn ein Wolken-Murte anzüglich grinsend und seine Axt schwingend auf einem Pferd wie aus weißem Rauch, aber der Falke trieb den Dämon an den Rand des Wolkenreichs zurück und verhöhnte ihn, indem er in engen Spiralen auf die untergehende Sonne zustürzte. Vor Einbruch der Nacht sah er eine Walherde, die, von einem Schiff verfolgt, nach Osten preschte.
    Unter dem Mond, von dem er seinen Namen hatte, flog der Vogel noch schneller dahin, und um Mitternacht spürte er mit jäh aufwallendem Glücksgefühl, wie hinter ihm der Wind umschlug. Ich komme vor der Zeit, vor der Zeit! Die Möwen, Seeschwalben und Kormorane, an denen er vorüberflog, schienen stillzustehen. Hin und wieder zog ein Wandelstern über den Himmel: eines jener stählernen Augen, die einst die Alten über Alifros aufgehängt hatten, um ihre Feinde zu beobachten.
    Am zweiten Tag trug ihm der Wind die Gerüche von Etherhorde zu. Sumpfgase, den Rauch der Stadt, die süßliche Ausdünstung der Äcker. Dann lag die Stadt endlich vor ihm: die helle Küste, die zahllosen Schiffe, die Hafenglocken und das Hundegebell, das Gepolter und Stimmengewirr des Marktes, das Lachen der Kinder in den Armenvierteln, die Festungsbauten und die schwarze Parade der Berittenen Leibwache des Kaisers. Etherhorde war die gewaltigste Stadt der Welt, und eines Tages (so hatte sein Herr ihm zugeraunt) würde es die einzige Stadt sein, in der die Macht wohnte, und alle anderen wären ihr Untertan.
    Der Falke war ein erwachtes Tier, und die Scheu seiner wilden Brüder vor allen Städten war ihm fremd. Dennoch durfte er ihre Gefahren nicht außer Acht lassen. Männer schossen mit Pfeilen, Jungen warfen mit Steinen. Deshalb nahm der Falke zum Fenster seines Herrn stets den gleichen Weg: den Fluss Ool entlang, vorbei an den Frachtmolen im Mündungsdelta, wo Schiffe aus ganz Alifros vor Anker lagen, vorbei an den hochherrschaftlichen Marmorhäusern und am Königinnenpark, an den Eisenwerken, wo Kanonen für die Flotte gegossen wurden, und am Heim für Veteranen, die vom Kanonenfeuer verstümmelt worden waren, bis er endlich den abweisenden Steinbau am Flussufer erreichte.
    Wer auf dem Ool fuhr, hielt das Gebäude oft fälschlicherweise für ein Gefängnis; tatsächlich war es ein Mädchenpensionat. Die bedauernswerten Kreaturen, die hinter diesen Mauern gefangen gehalten wurden, hatten den Falken schon öfter gesehen. Ein Mädchen – ein blondes Kind, das gern allein neben den Becken mit den Katzenwelsen saß – schaute jetzt zu ihm herauf. Viel zu aufgeweckt. Sie beobachtete ihn mit einem so wissenden Blick, dass es dem Vogel unheimlich wurde. Hatte sie womöglich seinen Auftrag oder den Namen seines Herrn erraten? Doch das spielte keine Rolle. Unter den Augen der Schwestern würde sie nicht wagen, einen Stein nach ihm zu werfen.
    Am anderen Ende grenzte das Pensionat an die Mauer um Mol Etheg, den heiligen Berg. Die Stadt war längst um ihn herumgewachsen, aber die uralten Kiefern an seinen Hängen waren noch dieselben wie zur Zeit der Bernsteinkönige, als Etherhorde nur aus ein paar Hütten am Rand eines grenzenlosen Waldes bestanden hatte. Heute stand der Etheg unter dem persönlichen Schutz des Erhabenen Kaisers. Wer sich an seinen Bäumen vergriff, wurde so hart bestraft, dass die Mütter ihren Kindern sogar verboten, mit den Kiefernzapfen zu spielen, die über die Mauer fielen. Der Falke liebte diesen Wald, er schlug dort Kaninchen und Schlangen und saß gern auf einem Baum, um in der Sonne zu dösen.
    Aber nicht jetzt. Jetzt flog er, zu Tode erschöpft, den Berg hinauf und kündigte mit heiseren Schreien sein Kommen an. Felsen tauchten auf, ein einsamer See, und dann erhob sich über dem gespaltenen Gipfel massig und feucht die riesige Burg Maag. Sie war Etherhordes ältestes Bauwerk, der Stammsitz der Herrscherfamilie, düsterer und weltabgeschiedener als der Kaiserpalast mit den fünf

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