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Windkämpfer

Windkämpfer

Titel: Windkämpfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Redick
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verkrusteten Speeren. Sie liefen unter dem Orangenbaum seiner Schwester herum, rissen Früchte ab und knickten Äste. Auf ihren Schilden trugen sie das Wappen von Arqual, den goldenen Fisch mit dem goldenen Dolch. Chadfallows Landsleute waren endlich eingetroffen.
    Auch Kinder, die nie einer Gefahr begegnet sind, erkennen sie manchmal binnen eines Herzschlags. Pazel stand nur einen Augenblick still. Dann rannte er um die Gartenmauer herum, erkletterte das Spalier an der Ecke, sprang auf das Dach im ersten Stock und schlüpfte durch das Fenster in sein Schlafzimmer.
    Unten in der Küche grölten und zechten die Soldaten. Seine Mutter und Neda waren nicht aufzufinden. Pazel war noch keine elf Jahre alt, aber er sah ganz deutlich alles, was sein Leben ausmachte, in diesen gierigen Händen, diesem rülpsenden Gelächter verschwinden. Auch das war Arqual: das echte Arqual hinter den feinen Kleidern und den Geschenken des Arztes. Er holte sich das Schiffermesser, das ihm sein Vater hinterlassen hatte, und einen daumengroßen Elfenbeinwal, mit dem schon seine Mutter als Kind gespielt hatte, und stand traurig vor seinem ordentlich gemachten Bett. Er trank das Wasser, das er am Abend zuvor verlangt und dann verschmäht hatte, und betrachtete seine Bücher, die Spielzeugsoldaten und Modellschiffe. Als das Gelächter in den oberen Flur vordrang und der Türknopf gedreht wurde, ergriff er die Flucht.
    Von den Pflaumengärten aus sah er die Stadt brennen. Die großen Tore lagen am Boden, und von der Mauer johlten die Arqual-Soldaten. Im Hafen lagen zwölf Kriegsschiffe, acht weitere schwammen in der windstillen Bucht. Das Dröhnen von Geschützfeuer rollte, gefolgt von hysterischem Hundegebell, die Hänge herauf.
    Im Morgengrauen erwischten sie ihn unter den taufeuchten Bäumen. Ein Korporal entriss ihm voller Schadenfreude den Wal und das Schiffermesser, nur um sich dann zu beklagen und ihm einen Fußtritt zu versetzen, weil die Klinge nicht geschliffen war. Als der Mann erfuhr, wo Pazel wohnte, trat er ihn noch einmal und verprügelte ihn dann. Wo sind die Frauen?, schrie er ihn an. Zwei schöne Frauen! Ich will sie haben!
    Als Pazel nicht antwortete, wurden die Schläge härter. Er schützte seinen Kopf und versuchte, an Neda oder seine Mutter nicht einmal zu denken. Schließlich spielte er den Bewusstlosen, und irgendwann brauchte er nicht mehr zu spielen.
    Als er erwachte, war er blutüberströmt und befand sich mitten in einer Horde von Jungen, von denen er einige kannte. Alle waren an den Fahnenmast im Hof seiner Schule gekettet, wo er noch vor einer Woche den Drachen seinen neidischen Freunden vorgeführt und mit seinem arqualischen ›Onkel‹ geprahlt hatte. Auf der Straße fuhren Pferdekarren mit ormalischen Gefangenen in schweren Ketten vorbei.
    Tage voller Schmerzen zogen wie im Nebel an ihm vorüber. Einmal erwachte er, weil eine Stimme seinen Namen rief, und schaute in ein Gesicht mit schlammverkrustetem Haar und einem blau geschlagenen Auge. Der Mann war seinen Häschern irgendwie entkommen und zu ihm gelaufen. Nun fiel er auf die Knie, fasste Pazel an der Schulter und keuchte, als läge er in den letzten Zügen. »Halt durch, Kind, halt durch!« Im nächsten Moment fielen zwei Arqual-Soldaten mit Knüppeln über ihn her. Erst Stunden später erkannte Pazel, dass es der Schulleiter gewesen war.
    Am gleichen Vormittag wurden alle Jungen von den Soldaten zum Sklavenmarkt in Ormaelport geführt. Die Stadt hatte die Sklaverei schon zu Lebzeiten seines Großvaters abgeschafft; vom alten Sklavenmarkt aus schauten seither die Liebespaare aufs Meer hinaus. Aber man hatte die Pfähle, an denen Menschen wie Schafe zum Verkauf angebunden worden waren, nie entfernt, und die Arqualier sahen mit einem Blick, wozu sie ursprünglich gedient hatten. Noch Jahre später suchte Pazel die Schrecken jenes Morgens zu verdrängen – das Herumgeschubse, das Feilschen, die Schmerzensschreie, das Zischen des Brandeisens, die Unruhestifter, die bewusstlos geschlagen oder kurzerhand mit ihren Ketten ins Hafenbecken gestoßen wurden. Es war so schrecklich gewesen, dass sein Gedächtnis bis zu dem Augenblick unmittelbar vor seiner eigenen Brandmarkung alles übersprang.
    Der Junge vor ihm schrie noch vor Schmerzen, nachdem man ihm das rotglühende Eisen in den Nacken gedrückt hatte, und der Sklavenhändler presste fluchend ein Stück Eis aus den Bergen auf die Schwellung, um das Brandmal zu festigen. Als er zufrieden war, nickte er den

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