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Windkämpfer

Windkämpfer

Titel: Windkämpfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Redick
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zurück. Dort wurde der Kapitän enthauptet, und Pazel heuerte auf einem Getreideschiff an. Danach folgten ein Erzfrachter, eine Barkasse auf dem Sorhn-Fluss und ein Lotsenboot, das Kriegsschiffe durch die Untiefen von Paulandri geleitete. Erst vor sechs Monaten war er schließlich der Eniel zugewiesen worden. Nach jedem Wechsel erfuhr er mit der Zeit aus Gerüchten, ein gewisser vornehmer Herr mit finsterem Blick und grauen Schläfen hätte die Verhandlungen geführt. Aber niemals schickte Chadfallow auch nur einen Gruß an Pazel persönlich.
    Im letzten halben Jahr hatte Pazel Kapitän Nestef lieben gelernt. Der alte Seebär vergötterte sein Schiff und legte Wert darauf, dass unter der Mannschaft Frieden herrschte. Das Essen war gut, nach den Mahlzeiten wurde Musik gemacht, und in jedem Hafen kaufte der Kapitän Bücher mit Geschichten, Reiseberichten oder Witzesammlungen bei den Schiffsausrüstern, um in ruhigen Nächten fern der Küste daraus vorzulesen.
    Natürlich blieb er der Ormalier. Insbesondere Jervik sorgte dafür, dass das niemand vergaß. Er verabscheute die Ormalier – er verabscheute jeden, dem er sich überlegen fühlte –, und erst letzte Woche hatte er Pazel sein Schiffermesser und den Elfenbeinwal gestohlen, die einzigen Dinge auf der Welt, die dem Jungen etwas bedeuteten. Jetzt würden sie für immer Jervik gehören.
    Aber Nestefs Güte hatte alles erträglich gemacht. Der Kapitän hatte sogar angedeutet, er wolle Pazel die Bürgerrechte kaufen und ihm helfen, erneut zur Schule zu gehen. Allein die Vorstellung, wieder lesen zu dürfen, weckte in Pazel die schönsten Hoffnungen.
    Und jetzt hatte Chadfallow alles zerstört. Pazel wusste nicht, warum der Arzt abermals in sein Leben eingegriffen hatte, doch diesmal hatte er ihn von dem besten Schiff geholt, das er sich jemals hätte erträumen können. Und was hatte er ihm in seinen Tee geschüttet?
    Pazel stand auf, warf einen letzten Nagel ins Wasser und wandte sich dem Kai zu. Er hatte sich entschieden: für ein neues Leben. Ein Leben ohne den ›Onkel‹ aus Arqual. Ohne seinen Schutz und ohne seine Täuschungen.

6
     
    B EINAHE FREI
     
     
    Vaqrin 941
    17.56 h
     
    Niriviel, der Mondfalke, schoss wie ein blassgelber Pfeil über den Himmel. Dem blonden Mädchen auf der Bank neben den berühmten Katzenwelsbecken des Lorg-Pensionats für Gehorsame Töchter wurde es bei dem Anblick leichter ums Herz, und für einen Moment bedauerte sie, dass sie den Falken niemals wiedersehen würde. Doch das ging schnell vorüber, denn so sehr sie den Falken liebte, das Pensionat hasste sie tausendmal mehr.
    Hinter ihr räusperte sich eine Frau. Das blonde Mädchen schaute über die Schulter und erblickte eine der Lorg-Schwestern, die sie mit stummem Vorwurf musterte. Über dem dunkelbraunen Gewand wirkte ihr Gesicht weißer als die Seerosen in den Becken; weißer sogar als die Fische, die langsam ihre Runden um die Stängel drehten.
    »Guten Abend, Schwester«, sagte das Mädchen.
    »Die Ehrwürdige Mutter erwartet dich in der Fischzuchtanlage«, sagte die Frau knapp.
    Das Mädchen stand erschrocken auf.
    »Nach deiner Meditation, mein Kind!«
    Die Schwester machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte davon. Das Mädchen setzte sich wieder, drehte sich zur Seite, damit ihr Gesicht von den Fenstern des Pensionatsgebäudes aus nicht zu sehen wäre, und drückte die Fingerknöchel fest gegen die schmiedeeiserne Bank. Eine Audienz bei der Mutter Prohibitor! Das war eine seltene Ehre: Nur in besonders schweren Fällen empfing die Ordensvorsteherin einen ihrer Zöglinge unter vier Augen. Das ist eine Falle, sagte sie sich. Ich wusste doch, dass sie es probieren würden.
    Das Accateo, wie die Schwestern es gerne nannten, war die kostspieligste und exklusivste Mädchenschule im ganzen Imperium. Außerdem auch die älteste, was zum Teil erklärte, warum die Schwestern so gern Alt-Arqualisch sprachen, sich in Umhänge hüllten, die an Leichentücher erinnerten, und Gerichte (wie Pferdeleberpastete und Starenbouillon) auf den Tisch brachten, die selbst aus Etherhordes traditionsbewusstesten Speisezimmern schon vor hundert Jahren verschwunden waren.
    Und die einsamste, dachte das Mädchen. Sie begann, sich für das Thema zu erwärmen.
    Der finsterste, grausamste, von Unwissenheit strotzendste Steinhaufen, den man jemals zu Unrecht als Schule bezeichnet hatte.
    Das Mädchen hieß Tascha Isiq, und sie war im Begriff, das Pensionat auf eigenen Wunsch zu verlassen. Dies

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