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Windkämpfer

Windkämpfer

Titel: Windkämpfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Redick
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Mutter.«
    »Schweig. Diese Entscheidung wird dich verfolgen wie ein Fluch. Sie bleibt dir auf den Fersen, auch wenn du bis ans Ende der Welt davor fliehst.«
    Jetzt übertreibt sie aber, dachte Tascha. Bis zu unserem Haus sind es nur neun Straßen.
    Die Mutter Prohibitor zog einen Brief aus ihrem Schwesterngewand und betrachtete ihn wie eine Frucht, die ihr unter den Händen verfault war.
    »Die Entscheidung zu versagen lässt das Leben verkümmern. Deshalb hat das Versagen keinen Platz in unserem Lehrplan. In diesem Jahrhundert wurden nur zwei Mädchen in Schande entlassen. Ich preise deinen gütigen Vater …« – sie hielt den Brief in die Höhe – »… dass er dich davor bewahrt, die dritte zu werden.«
    »Er hat nach mir geschickt!«, entfuhr es Tascha, bevor sie es verhindern konnte.
    »Solange du dieses Gewand trägst, bist du eine Lorg-Tochter und wirst mir gehorchen«, sagte die Mutter Prohibitor. »Ja, er schickt nach dir. Weißt du auch, warum?«
    »Vielleicht vermisst er mich, Ehrwürdige Mutter. Ich weiß, dass er mich vermisst.«
    Die alte Frau sah sie nur schweigend an.
    »Bist du gläubig, mein Kind?«, fragte sie endlich. »Glaubst du daran, dass im Himmel ein Baum wächst, der Milchbaum, wie wir ihn nennen, und dass diese unsere Welt Alifros nur eine der schönen Früchte ist, die mit der Zeit reifen und abfallen oder von Rins eigener Hand gepflückt werden müssen?«
    Tascha schluckte. »Ich weiß es nicht, Ehrwürdige Mutter.«
    Die alte Frau seufzte. »Wenn du nur halbwegs die junge Frau bist, die du zu sein scheinst, wird dich die Wahrheit zu finden wissen. Geh jetzt, du hast unseren Segen, und die Stimmen deiner Schwestern, der alten wie der jungen, werden sich zum Gesang erheben, auf dass der Engel, der alle ehrlichen Pilger geleitet, dich sicher an die fernen Gestade bringe.«
    Tascha schlug fassungslos die Augen nieder. Sie hatte erwartet, verflucht und gedemütigt zu werden. Die Hymnen für Schulabbrecher im Gesangbuch lasen sich wie Todesurteile. Stattdessen war Rins Engel beschworen worden …
    »Siehst du den Kasten dort auf der Werkbank? Bring ihn mir. Bevor du gehst, möchte ich dir zwei Geschenke überreichen.«
    Tascha holte den Kasten, er hatte etwa die Größe einer Hutschachtel. Die alte Frau befahl ihr, die Schnur zu lösen und den Deckel abzuheben. Eine Lederhülle mit einer Schnalle lag darin, und in der Hülle befand sich ein Buch. Tascha nahm es heraus und drehte es hin und her. Es war alt und sehr dick: vier Zoll dick, aber dafür ganz leicht. Der glatte schwarze Ledereinband war unbeschriftet.
    Als Erstes fiel Tascha auf, wie dünn das Papier war. Wenn sie eine Seite anhob, konnte sie dahinter ihre Hand sehen, aber wenn sie sie auf die anderen legte, erschien sie blendend weiß.
    »Libellenflügelblätter«, bemerkte die alte Frau. »Das dünnste Papier der Welt.« Sie nahm Tascha das Buch ab, schlug die erste Seite auf und hielt sie in die Höhe:
     
    Händlers Polylex: 5400 Seiten Lebensweisheit
    13. Ausgabe
     
    »Du wirst dir die Zahl Dreizehn einprägen«, sagte die Mutter Prohibitor. Dann trennte sie die Seite heraus. Tascha sah verständnislos zu, wie sie das Blatt in viele kleine Teile zerriss und sie in den Eimer mit den sterbenden Katzenwelsen warf. »Hast du schon einmal ein Polylex gesehen?«, fragte die Frau.
    »Schon viele«, antwortete Tascha. »Mein Vater hat …«
    »Die neueste Ausgabe. Natürlich. Jeder Seefahrer, der es sich leisten kann, besitzt ein Polylex, falls er überhaupt ein Buch besitzt. Es ist ein Handbuch für Reisende – Enzyklopädie, Wörterbuch und Weltgeschichte, im Laufe von Jahrhunderten immer wieder umgeschrieben und alle zwanzig Jahre neu aufgelegt. Was denkst du gerade?«
    Tascha wurde rot. »Verzeihung, Ehrwürdige Mutter. Mein Vater sagt, Händlers Polylex enthält nur blühenden Unsinn.«
    Die Mutter Prohibitor legte die Stirn in so tiefe Falten, dass ihre Augenbrauen sich wie zwei Messer überkreuzten. »Dies ist ein seltenes Exemplar. Man könnte es unbezahlbar nennen. Gib es nicht aus der Hand – und lies hin und wieder darin, mein Kind. Entscheide selbst, was wertlos und was Gold ist. Und jetzt stecke es ein und lass mich deine Hand sehen.«
    Tascha wusste, welche Hand gemeint war. Die alte Frau drehte die Handfläche nach oben und strich mit dem Finger über die alte Wunde. Taschas Gedanken überschlugen sich. Warum sollte ihr die Mutter Prohibitor ein solches Geschenk machen, wenn sie nur knapp der Schande entgangen

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