Windkämpfer
sollte eigentlich der glücklichste Tag in den zwei Jahren sein, die sie im Lorg verbracht hatte. Zwei Jahre, ohne ein einziges Mal ihren Vater oder ihre Freunde zu sehen, ohne das Meer rauschen zu hören oder den Maj-Berg zu besteigen. Zwei Jahre ohne zu lachen, allenfalls leise in einer Ecke und stets in Gefahr, dafür bestraft zu werden.
Aber sie konnte sich über die nahende Freiheit nicht freuen – noch nicht. Die Macht der Schwestern war zu groß. Sie weckten einen mit ihren Liedern (heiseren Gesängen über die Sündengeschichte der Weiblichkeit); sie lasen nicht nur ganz offen private Tagebücher, sondern korrigierten auch noch mit rotem Federkiel jeden Grammatikfehler; sie befragten einen nach seinen Träumen und verglichen einen ständig mit den unerreichbar reinen Ersten Schwestern aus der Zeit der Bernsteinkönige; sie bürdeten einem Arbeiten in Haus und Garten auf, bei denen man auch noch unablässig erbauliche Verse zu rezitieren hatte. Dann gab es Frühstück. Und danach begann erst die eigentliche Arbeit: die Erziehung der jungen Damen.
Tascha hatte nichts über das Pensionat gewusst, als Syrarys, die zweite Gemahlin ihres Vaters, ihr mitteilte, dass man sie dort anmelden wollte. Sobald sie begriffen hatte, dass Syrarys die ummauerte Anlage mit den abweisenden Türmen und dem Eisentor mit den scharfen Spitzen meinte, hatte sie sich rundheraus geweigert. Ein heftiger Kampf zwischen Isiqs Tochter und seiner einstigen Gespielin war ausgebrochen, und Tascha hatte verloren. Oder vielmehr kapituliert: die Krankheit ihres Vaters, eine Entzündung des Gehirns, die schon seit Jahren andauerte, hatte sich plötzlich verschlimmert, und der Arzt der Familie hatte ihr ganz offen erklärt, dass Eberzam Isiq nicht genesen würde, wenn man ihn nicht zumindest vorübergehend von den Lasten und Sorgen der Vaterschaft befreite.
Für Tascha roch diese Diagnose nach Betrug. Sie ahnte, dass Syrarys sie hasste, obwohl sie ihr die liebende Freundin vorspielte. Und dem Doktor Chadfallow hatte Tascha nie vollkommen vertraut, auch wenn er ein Freund des Kaisers war.
In seinem Begrüßungsschreiben verhieß das Pensionat Unterricht in Musik, Tanz und Literatur, und Tascha fasste zunächst wieder Mut, denn alle drei Fächer waren ihr damals lieb und teuer gewesen. Heute waren sie ihr fast ein Gräuel.
Schuld daran war die Sünde. Die Schwestern waren von der Sünde besessen und vergifteten damit alles, was sie berührten. ›Literatur‹ bedeutete, gemeinsam über den Tagebüchern früherer Schülerinnen zu brüten, die jetzt als Ehefrauen in den reichsten Häusern der bekannten Welt saßen: Tagebücher, in denen in beschämenden Einzelheiten der lebenslange Kampf jeder Frau gegen ihre angeborene Schlechtigkeit ausgebreitet wurde. Im Fach ›Tanz‹ musste man die steifen Walzer und Quadrillen für die großen Bälle der vornehmen Gesellschaft oder die erotischen Darbietungen erlernen, die gewisse Familien in den zwölf Nächten vor der Hochzeit von den Bräuten verlangten. ›Musik‹ war nichts anderes als Sünde in Reinkultur. Man bekannte seine Sünden in gewimmerten Arien. Man bereute sie in endlosen Madrigalen. Und man erinnerte sich an vergangene Sünden in leisen, unterwürfigen Klagegesängen.
Fast tausend Jahre lang betrieb das Accateo nun schon die geistige Verstümmelung junger Mädchen. Beim Eintritt waren sie zappelige Kinder mit großen Augen; wenn sie das Pensionat verließen, waren sie gefügige Träumerinnen, die wie in Trance auf die Epen über die eigene Verdorbenheit und den lebenslangen Kampf um eine leichte Besserung starrten, der vor ihnen lag. Tascha betrachtete ein Mädchen in ihrem Alter, das ein paar Schritte entfernt die Rosen beschnitt: Es konnte vor Müdigkeit kaum die Augen offen halten, aber seine Lippen standen nicht still, es wiederholte unaufhörlich den aufgegebenen Erbauungsspruch. Hin und wieder lächelte es wie über ein süßes Geheimnis. Und natürlich war es hübsch.
Tascha überlief ein Schauer. Sie selbst hätte dieses Mädchen sein können. Sie wäre so geworden, wäre sie noch viel länger hiergeblieben. Wenn man tagtäglich von früh bis spät von der gleichen Darstellung der Welt verfolgt wird und diese Darstellung sogar ins Land der Träume einzudringen droht, erinnert man sich bald nur noch mit Mühe daran, dass es sich dabei lediglich um eine Ansicht von vielen handelt. Andere Ansichten bekommt man nicht zu hören, und wenn man sie nicht ganz vergessen hat, dann
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