Windkämpfer
erscheinen sie einem wie Schneeflocken im dampfenden Dschungel: alberne Fantasien, die kaum noch etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben.
Genau das sollte natürlich erreicht werden.
Noch während Tascha solchen Gedanken nachhing, meldete sich ihr Gewissen. Hatten ihr nicht die Schwestern erst beigebracht, wie ihr Bewusstsein arbeitete? Neben tausend andere Dingen? Dass etwa Liebe in dieser Welt mehr bedeutete als Klatsch, reichliches Essen und ein Kleid von den Schneidern in der Apsal-Straße. Und sie dankte es ihnen mit Hass. Sie verabscheute sie, verlachte sie innerlich. Verleumdete sie bei ihrem Vater. Verließ vorzeitig das Pensionat.
Sie schaute auf ihre Hände nieder, über die linke Handfläche zog sich eine hässliche Narbe, die aussah wie mit einem spitzen Stock eingeritzt. Vor fast zwei Jahren, an ihrem fünfzehnten Abend im Lorg, war Tascha weinend zu dieser Bank gelaufen. Nie gekannte Schuldgefühle drohten ihr die Brust zu sprengen: Schuldgefühle, weil sie existierte, weil sie die Liebe der Schwestern nicht genügend erwiderte, weil sie zuließ, dass ihr Vater sein Vermögen vergeudete, indem er sie hierherschickte, während sie alle gebotenen Chancen ausschlug. Schuldgefühle, weil sie die Schwestern mit Fragen löcherte, Schuldgefühle, weil sie sich nicht schuldig fühlen wollte. So viel schlechtes Gewissen war unerträglich, schon bevor die älteren Schwestern sie fanden. Wir haben dich gewarnt, sagten sie. Wir haben dir genau beschrieben, was du empfinden würdest. Wenn ein Mädchen schwach sein will, kann es die Wahrheit vielleicht nach außen hin verbergen, aber sein Herz kennt sie. Und was ist die Wahrheit? Dass es ein eitler Taugenichts ist und die Welt verpestet. Ein Geschwür. Ein Parasit. Und nun sag, dass wir lügen, Kind. Tascha konnte nur noch schluchzen, doch das Geplapper hörte nicht auf, lieferte ihr immer neue Gründe für ihren Kummer, bis sie endlich einen dürren Ast von einem Rosenstock abbrach und ihn sich mit aller Kraft in die linke Hand stieß.
Die Schwestern schrien auf; eine schlug sie auf den Hinterkopf; aber die Selbstverstümmelung rettete Tascha das Leben. Sie war überzeugt: noch eine Minute länger, und sie wäre an ihrem Hass auf sich selbst gestorben. Nun sah sie mit einem Mal völlig klar und dachte: Wie offensichtlich und wie genial, sie bringen uns dazu, sie dafür zu lieben, dass sie uns quälen! Und bevor die Schwestern sie auf die Krankenstation brachten, gelobte sich Tascha, so lange sie auch hierbliebe, auf dieser Bank immer ihre eigenen Gedanken zu denken und ihre eigenen Gefühle zu fühlen.
Ja, hier war sie zur Frau geworden. Indem sie sich gegen die Schwestern zur Wehr setzte.
Jetzt erhob sich Tascha und sagte ihrer Bank mit dankbaren Fingern Lebewohl. Dann drehte sie sich um und strebte rasch der Fischzuchtanlage zu. Hinter dem Milchglas war schon der rote Umhang der Mutter Prohibitor zu erkennen. Beherrsche dich und vermeide jeden Angriff, ermahnte sie sich. Du bist fast frei.
Einige von den Mädchen würden nie wieder in Freiheit leben. Das Lorg kannte keinen formellen Schulabschluss. Man blieb einfach so lange, bis man das Institut auf irgendeinem Weg verlassen konnte, und solche Wege gab es nicht viele. Man konnte, der Gipfel der Schande, auf eigenen Wunsch ausscheiden, dafür hatte sich Tascha entschieden, auch wenn die erbosten Schwestern gedroht hatten, jede andere Schule in der Stadt vor ihren ›charakterlichen Schwächen‹ zu warnen. Man konnte auch eine Schwester ermorden und sich damit nicht ganz so tief in Schande stürzen. Man konnte von seinen Eltern nach Hause geholt werden, worum Tascha seit ihrem ersten Abend im Lorg ihren Vater in insgesamt sechsundfünfzig Briefen angefleht hatte. Man konnte (das war Taschas Erfindung) Schwester Ipoxias Trauerkirsche besteigen, bis sich der gummiartige Stamm unter dem Gewicht bog und man auf der anderen Seite der Mauer abspringen konnte; aber die städtischen Gendarmen hatten scharfe Augen und brachten jede Ausreißerin sofort in das Pensionat zurück, wo sie den Segen der Mutter Prohibitor und eine Handvoll Münzen dafür einkassierten.
Oder man konnte heiraten. Das war der einzig legitime Ausweg aus dem Lorg. Die Schule hielt jedes Jahr zweimal einen so genannten Liebesmarkt ab. In dieser Zeit unterbrachen die Schwestern ihren Unterricht, die Gartenarbeit, das Weinkeltern und das Züchten der Katzenwelse, um sich mit Leib und Seele als Heiratsvermittlerinnen zu betätigen. Der nächste
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