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Windkämpfer

Windkämpfer

Titel: Windkämpfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Redick
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war? Warum wurde dieses Gespräch überhaupt geführt?
    »Irgendwo in diesem Polylex«, fuhr die Mutter Prohibitor fort, »wirst du eine Sage aus dem alten Königreich Nohirin finden, die von einem Mädchen mit einer verletzten Hand erzählt. Das Mädchen hieß Erithusmé und wurde ohne Angst geboren. Erithusmé lachte über Erdbeben, kroch den Elefanten zwischen den Beinen herum und rannte in brennende Felder, um die Flammen zu bewundern. Aber an ihrem sechzehnten Geburtstag kam der König von Nohirin mit seinen Soldaten und entführte sie in die eisbedeckten Berge im Norden jenes Landes. Dort befahl er ihr, in eine große Höhle zu gehen und herauszubringen, was sie dort fände.
    Der König wusste wohl, was sie finden würde: eine magische Waffe namens Nilstein nämlich, einen der schrecklichsten Gegenstände in der Geschichte. Niemand wusste, woher dieser Nilstein kam. Einige sagten, aus dem Schlund eines Drachen. Andere behaupteten, er wäre vom Mond oder von einem Wandelstern herabgefallen. Aber alle waren sich einig, dass er Unglück brachte. Der Urgroßvater des Königs hatte ihn selbst in die Höhle geworfen, und ein Jahrhundert lang war niemand, der sich hineingewagt hatte, lebend zurückgekehrt. Erithusmé betrat sie jedoch, furchtlos wie immer, trotzte den Fallgruben, den Eisgespenstern und der Finsternis und fand schließlich den Nilstein.
    Er lag inmitten von gefrorenen Leichen – alle Männer, die der König vor ihr dorthin geschickt hatte, waren gestorben, sobald sie den verfluchten Stein berührten. Doch als Erithusmé ihn aufhob, spürte sie nur einen leichten Stich in der Hand. Und als sie ihn aus der Höhle trug, wurde sie mächtiger als alle Magier in Alifros. Ein Wort von ihr genügte, um das Heer des Königs in die Flucht zu schlagen; mit einem Fingerschnippen rief sie einen Greif herbei und ließ sich von ihm forttragen. Drei Jahre lang flog Erithusmé von Land zu Land und vollbrachte magische Wunder ohnegleichen. Hier bezwang sie eine Seuche, dort ließ sie Quellen sprudeln, wo tags zuvor noch Sandstürme getobt hatten.
    Doch nicht alles geriet ihr zum Segen. Als sie einen Vulkan verstopfte, brachen drei andere in seiner Umgebung aus. Als sie den alten König von Nohirin vom Thron stürzte, kämpften neun böse Prinzen um die Macht, jeder wollte die anderen töten und bat sie um Hilfe. Und sie stellte fest, dass der Stein angefangen hatte, ihr die Hand zu verbrennen. Unsicher geworden, flog Erithusmé zur heiligen Insel Rapopalni, begab sich dort in den Tempel der Morgenröte und kniete vor der Hohepriesterin nieder.
    Sie streckte ihr die Hand entgegen und sagte: ›Ich kann so viele Wunder wirken; warum kann ich diese kleine Brandwunde nicht heilen?‹ Die Priesterin entgegnete: ›Weil nicht einmal du, meine Tochter, völlig frei bist von Angst. Kein Mann, keine Frau ist dazu imstande. Durch deine Angst vergiftet dich der Nilstein und verkehrt deine guten Taten ins Böse. Du hast nur zwei Möglichkeiten: Wirf ihn von dir und werde wieder du selbst, oder behalte ihn und stirb.‹«
    Die Mutter Prohibitor hatte Taschas Hand nicht losgelassen. Tascha wagte kaum zu atmen.
    »Eine Sage«, schloss die alte Frau endlich. »Und für manch einen eine Warnung. Du kannst das Ende nachlesen, wenn du Zeit dazu hast. Nun denn, mein zweites Geschenk ist eine Erinnerung. Keine Lorg-Tochter ist jemals allein. Auf dem Weg, den dein Schicksal dich zu gehen zwingt, wird immer mindestens eine der Unseren in deiner Nähe sein. Vergiss das nicht, Tascha: In höchster Not kannst du dich an sie wenden; sie darf dir ihre Hilfe nicht versagen. Und jetzt muss ich wieder an die Arbeit. Hast du noch eine Frage an mich?«
    Tascha blinzelte. Verwundert spürte sie, dass ihr die Tränen in den Augen standen. »Mein Pfandbaum, Ehrwürdige Mutter. Muss ich ihn eigenhändig zerstören?«
    Jedes Mädchen pflanzte bei seinem Eintritt ins Lorg im Pfandgarten, der die Hälfte der Anlage einnahm und gerade jetzt in voller Blüte stand, einen Kirschbaum. Wer vorzeitig ausschied, musste seinen Schössling ausreißen und zerhacken.
    Die Mutter Prohibitor sah sie lange schweigend an. Dann hob sie die Hand und machte über Taschas Kopf das Zeichen des Baumes.
    »Er hat Wurzeln geschlagen, Kind«, sagte sie endlich. »Ich denke, wir müssen ihn wachsen lassen.«
    Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab. Tascha hätte am liebsten laut losgeheult, als sie die Zuchtanlage verließ. Sie liebte die Schwestern! Aber das war Wahnsinn! Sie

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