Winesburg, Ohio (German Edition)
zu diesem Zweck den Salon überlassen. Stundenlang saßen die beiden dann hinter verschlossenen Türen. Manchmal waren die Lampen heruntergedreht, und der junge Mann und die junge Frau umarmten einander. Wangen wurden heiß und Haare zerwühlt. Nach einem oder auch zwei Jahren, wenn die Regung zwischen ihnen hinreichend stark und drängend wurde, heirateten sie.
An einem Abend während ihres ersten Winters in Winesburg erlebte Louise ein Abenteuer, das ihrem Verlangen, die Mauer niederzureißen, die ihrer Meinung nach zwischen ihr und John Hardy stand, neuen Auftrieb verlieh. Es war ein Mittwoch, und unmittelbar nach dem Abendessen setzte Albert Hardy den Hut auf und ging aus. Der junge John brachte das Holz in Louises Zimmer und stapelte es in die Kiste. «Du arbeitest schon hart», sagte er verlegen, und noch bevor sie etwas antworten konnte, ging er auch wieder.
Louise hörte, wie er das Haus verließ, und empfand ein rasendes Verlangen, ihm hinterherzurennen. Sie öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus und rief leise: «John, lieber John, komm zurück, geh nicht.» Die Nacht war bewölkt, und sie konnte in dem Dunkel nicht weit sehen, doch während sie noch wartete, meinte sie, ein kleines, feines Geräusch zu hören, als ginge einer auf Zehenspitzen durch die Bäume im
Obstgarten. Sie fürchtete sich und schloss rasch das Fenster. Eine Stunde lang lief sie, zitternd vor Erregung, im Zimmer umher, und als sie das Warten nicht länger aushielt, schlich sie in den Flur, die Treppe hinab und hinein in einen schrankähnlichen Raum, der vom Salon abging.
Louise hatte beschlossen, jene beherzte Handlung auszuführen, die sie schon seit Wochen im Kopf hatte. Sie war überzeugt, dass John Hardy sich im Obstgarten unterm Fenster versteckt hatte, und sie war entschlossen, ihn zu finden und ihm zu sagen, dass sie wünschte, er käme ihr nahe, hielte sie in den Armen, erzählte ihr von seinen Gedanken und Träumen und hörte zu, wie sie ihm von ihren Gedanken und Träumen erzählte. «Im Dunkeln wird es leichter sein, Dinge zu sagen», flüsterte sie bei sich, als sie in dem kleinen Raum stand und nach der Tür tastete.
Und dann erkannte Louise plötzlich, dass sie im Haus nicht allein war. Im Salon auf der anderen Seite der Tür sprach leise eine Männerstimme, dann ging die Tür auf. Louise blieb gerade genügend Zeit, sich in dem kleinen Raum unter der Treppe zu verstecken, als Mary Hardy in Begleitung ihres Jünglings in das kleine dunkle Zimmer trat.
Eine Stunde lang saß Louise im Dunkeln auf dem Fußboden und horchte. Ohne Worte vermittelte Mary Hardy mit Hilfe des Mannes, der gekommen war, um den Abend mit ihr zu verbringen, dem Mädchen vom Lande das Wissen um Männer und Frauen. Den Kopf senkend, bis sie zu einer kleinen Kugel eingerollt war, lag sie vollkommen ruhig da. Ihr schien, dass Mary
Hardy dank einer merkwürdigen Regung der Götter ein großes Geschenk verliehen war, und sie begriff den entschiedenen Protest der älteren Frau nicht.
Der junge Mann nahm Mary Hardy in die Arme und küsste sie. Als sie sich lachend sträubte, hielt er sie nur noch fester. Eine Stunde lang währte der Wettstreit zwischen ihnen, dann gingen sie zurück in den Salon, und Louise entwischte die Treppe hinauf. «Ich hoffe, du warst draußen still. Du darfst doch die kleine Maus nicht beim Lernen stören», hörte sie Harriet zu ihrer Schwester sagen, als sie oben im Flur vor ihrer Tür stand.
Louise schrieb John Hardy ein Briefchen, und später, als alles im Hause schlief, schlich sie nach unten und schob es unter seiner Tür hindurch. Sie fürchtete, dass der Mut sie verließ, wenn sie es nicht sofort tat. In der Nachricht versuchte sie, in dem, was sie wollte, sehr bestimmt zu sein. «Ich will einen, der mich liebt, und ich will einen lieben», schrieb sie. «Wenn du der für mich bist, dann sollst du nachts in den Obstgarten kommen und unter meinem Fenster ein Geräusch machen. Es wird mir ein Leichtes sein, über den Schuppen hinabzusteigen und zu dir zu kommen. Ich denke die ganze Zeit daran, wenn du also überhaupt kommen willst, muss es bald sein.»
Lange Zeit wusste Louise nicht, was bei ihrem kühnen Versuch, sich einen Liebhaber zu beschaffen, herauskommen würde. In mancher Hinsicht wusste sie noch immer nicht, ob sie nun wollte, dass er kam. Manchmal schien es ihr, dass gehalten und geküsst zu werden das ganze Geheimnis des Lebens war, und dann
regte sich etwas Neues in ihr, und sie hatte schreckliche
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