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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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Angst. Das uralte weibliche Verlangen, besessen zu werden, hatte Besitz von ihr ergriffen, doch ihre Vorstellung vom Leben war so vage, dass ihr schien, als stellte allein schon das Berühren ihrer Hand durch die Hardys sie zufrieden. Sie überlegte, ob er das verstehen würde. Am nächsten Tag bei Tisch, als Albert redete und die zwei Mädchen flüsterten und lachten, sah sie nicht zu John hin, sondern auf den Tisch und floh, sobald es möglich war. Abends verließ sie dann das Haus, bis sie sicher sein konnte, dass er das Holz auf ihr Zimmer gebracht hatte und wieder gegangen war. Als sie nach mehreren Abenden intensiven Horchens keinen Ruf aus dem Dunkel des Obstgartens gehört hatte, war sie halb außer sich vor Kummer und kam zu dem Schluss, dass es für sie keinen Weg gab, die Mauer zu durchbrechen, die sie von den Freuden des Lebens ausgeschlossen hatte.
    Und dann an einem Montagabend, zwei, drei Wochen nach Abfassung des Briefchens, kam John Hardy zu ihr. Louise hatte den Gedanken, er könnte kommen, schon so lange aufgegeben, dass sie den Ruf, der aus dem Obstgarten kam, lange Zeit nicht hörte. An dem Freitagabend davor, als sie von einem der Knechte fürs Wochenende zur Farm zurückgefahren wurde, hatte sie aus einer Regung heraus etwas getan, was sie erschreckt hatte, und als John Hardy unten im Dunkeln stand und leise und beharrlich ihren Namen rief, lief sie in ihrem Zimmer umher und fragte sich, welche neuartige Regung sie dazu bewogen hatte, etwas so Lächerliches zu begehen.
    Der Farmknecht, ein junger Bursche mit schwarzen Locken, war an dem Abend etwas spät gekommen, und so fuhren sie im Dunkeln nach Hause. Louise, deren Kopf voller Gedanken an John Hardy war, versuchte, Konversation zu treiben, doch der Bauernjunge war verlegen und sagte nichts. Im Geiste blickte sie nun zurück auf die Einsamkeit ihrer Kindheit, und mit jähem Schmerz erinnerte sie sich an die schneidende neue Einsamkeit, die über sie gekommen war. «Ich hasse alle», rief sie plötzlich aus und verfiel dann in eine Tirade, die ihren Begleiter ängstigte. «Und Vater und den alten Hardy hasse ich auch», erklärte sie heftig. «Ich erhalte meine Lektionen in der Schule dort in der Stadt, aber die hasse ich auch.»
    Louise verängstigte den Knecht noch mehr, indem sie sich ihm zuwandte und ihm die Wange an die Schulter legte. Sie hatte die vage Hoffnung, er werde wie der junge Mann, der mit Mary im Dunkeln gestanden hatte, den Arm um sie legen und sie küssen, doch der Bauernjunge war nur bestürzt. Er hieb mit der Peitsche auf das Pferd ein und pfiff. «Die Straße ist holperig, wie?», sagte er laut. Louise war so wütend, dass sie ihm den Hut vom Kopf zog und auf die Straße warf. Als er vom Buggy stieg, um ihn zu holen, fuhr sie davon und ließ ihn den Rest des Weges zur Farm zu Fuß gehen.
    Louise Bentley betrachtete John Hardy als ihren Liebhaber. Das hatte sie nicht gewollt, so aber hatte der junge Mann ihren Vorstoß bei ihm interpretiert, und sie wollte so sehr etwas anderes erreichen, dass sie keinen Widerstand leistete. Als sie nach wenigen
Monaten beide fürchteten, sie könnte Mutter werden, gingen sie eines Abends in die Bezirkshauptstadt und heirateten. Einige Monate lebten sie im Hardy’schen Haus, dann zogen sie in ein eigenes. Das ganze erste Jahr hindurch versuchte Louise, ihrem Mann den vagen, kaum fassbaren Durst begreiflich zu machen, der sie veranlasst hatte, ihm das Briefchen zu schicken, und der weiterhin ungestillt war. Wieder und wieder verkroch sie sich in seine Arme und versuchte, darüber zu sprechen, doch stets ohne Erfolg. Von seinen eigenen Vorstellungen von der Liebe zwischen Mann und Frau erfüllt, hörte er ihr nicht zu, sondern küsste sie auf die Lippen. Dies verwirrte sie so sehr, dass sie am Ende gar nicht mehr geküsst werden wollte. Sie wusste nicht, was sie wollte.
    Als der Schrecken, der sie in die Ehe gelockt hatte, sich als grundlos erwies, war sie wütend und sagte bittere, schmerzende Dinge. Später, als ihr Sohn David geboren war, konnte sie ihn nicht stillen und wusste auch nicht, ob sie ihn überhaupt wollte. Manchmal blieb sie den ganzen Tag bei ihm im Zimmer, ging mit ihm herum und kroch zuweilen dicht an ihn heran, um ihn zärtlich mit den Händen zu berühren, an anderen Tagen wiederum wollte sie ihn gar nicht sehen oder diesem winzigen bisschen Menschheit, das da ins Haus gekommen war, auch nur nahe sein. Als John Hardy sie wegen ihrer Grausamkeit tadelte, lachte sie.

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