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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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da redest», sagte er schroff; «du kannst sicher sein, dass ich etwas Derartiges nicht zulasse. Sobald ich eine gut bezahlte Stelle habe, komme ich zurück. Vorerst wirst du hierbleiben müssen. Es ist das Einzige, was wir tun können.»
    Am Abend bevor er Winesburg verließ, um sein neues Leben in der Stadt zu beginnen, traf sich Ned Currie mit Alice. Sie spazierten eine Stunde durch die Straßen, holten sich dann in Wesley Moyers Mietstall ein Gespann und machten eine Ausfahrt aufs Land. Der Mond ging auf, und sie sahen sich außerstande zu reden. In seiner Trauer vergaß der junge Mann die Entschlüsse, die er hinsichtlich seines Umgangs mit dem Mädchen getroffen hatte.
    An einer Stelle, wo sich eine große Wiese bis zum Ufer des Wine Creek erstreckte, stiegen sie vom Buggy, und dort in dem fahlen Licht wurden sie zu Liebenden. Als sie um Mitternacht in die Stadt zurückkehrten, waren sie beide froh. Sie glaubten nicht, dass in der Zukunft etwas geschehen könnte, was das Wunder und die Schönheit des Geschehenen auslöschen würde.«Nun werden wir zueinanderhalten müssen, was immer geschieht, das werden wir tun müssen», sagte Ned Currie, als er das Mädchen an der Tür ihres Vaters verließ.
    Der junge Zeitungsmann schaffte es nicht, eine Stelle bei einer Clevelander Zeitung zu ergattern, und so ging er nach Westen, nach Chicago. Eine Weile war er einsam und schrieb Alice beinahe jeden Tag. Dann geriet er in den Sog des Stadtlebens; er schloss Freundschaften und interessierte sich für neue Dinge. In Chicago logierte er in einem Haus, in dem es mehrere Frauen gab. Eine weckte seine Aufmerksamkeit, und er vergaß Alice in Winesburg. Am Ende eines Jahres schrieb er dann keine Briefe mehr, und nur selten einmal, wenn er einsam war oder wenn er in einen der städtischen
Parks ging und den Mond aufs Gras scheinen sah, wie er in jener Nacht auf die Wiese am Wine Creek geschienen hatte, dachte er noch an sie.
    In Winesburg wuchs das Mädchen, das geliebt worden war, zur Frau heran. Als sie zweiundzwanzig Jahre alt war, starb unerwartet ihr Vater, der eine Reparaturwerkstatt für Pferdegeschirr hatte. Der Geschirrmacher war einmal Soldat gewesen, und nach einigen Monaten erhielt seine Frau eine Witwenrente. Vom ersten Geld, das sie bekam, kaufte sie sich einen Webstuhl und wurde Teppichweberin, und Alice bekam eine Stelle in Winneys Laden. Einige Jahre lang hätte nichts sie zu der Annahme veranlasst, dass Ned am Ende nicht mehr zu ihr zurückkehrte.
    Sie war froh über ihre Anstellung, weil der alltägliche Arbeitstrott in dem Geschäft die Wartezeit weniger lang und uninteressant erscheinen ließ. Sie begann, Geld zu sparen, und sie glaubte, wenn sie zwei- oder dreihundert Dollar zurückgelegt hätte, würde sie ihrem Liebhaber in die Stadt folgen und versuchen, ob sie, wenn sie dort wäre, seine Zuneigung nicht doch zurückgewinnen könnte.
    Alice machte Ned Currie für das, was im Mondschein auf dem Feld geschehen war, keine Vorwürfe, aber sie glaubte, sie könnte niemals einen anderen Mann heiraten. Die Vorstellung, einem anderen das zu geben, was, wie sie noch immer glaubte, nur Ned gehören konnte, fand sie ungeheuerlich. Buhlten andere junge Männer um ihre Aufmerksamkeit, wollte sie nichts mit ihnen zu tun haben. «Ich bin seine Frau und werde seine Frau bleiben, mag er zurückkommen
oder nicht», flüsterte sie bei sich, und trotz aller Bereitschaft, ihren Unterhalt selbst zu bestreiten, hätte sie die moderne Vorstellung, dass eine Frau sich selbst gehörte und für ihre eigenen Zwecke im Leben gab und nahm, doch nicht verstanden.
    Alice arbeitete von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends im Kurzwarenladen, und an drei Abenden die Woche ging sie noch einmal in das Geschäft und blieb von sieben bis neun Uhr. Im Laufe der Zeit wurde sie immer einsamer und griff zu den Mitteln, die bei einsamen Leuten üblich sind. Ging sie abends nach oben auf ihr Zimmer, kniete sie sich zum Beten auf den Fußboden und flüsterte in ihren Gebeten Dinge, die sie ihrem Liebhaber sagen wollte. Sie hängte ihr Herz an unbelebte Gegenstände und konnte es, da es ihre waren, nicht ertragen, wenn jemand die Möbel in ihrem Zimmer berührte. Die Angewohnheit, Geld anzusparen, anfangs zu einem bestimmten Zweck, wurde beibehalten, auch nachdem der Plan, in die Stadt zu gehen und Ned Currie zu suchen, aufgegeben worden war. Manchmal, an Regentagen, zog sie im Geschäft ihr Sparbuch hervor, ließ es offen vor sich liegen und

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