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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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der vergehenden Stunden führte nur dazu, dass er stärker denn je trank. In einem aber hatte er Erfolg. Er gab Toms Tochter einen Namen, der reich an Bedeutung war.
    Eines Abends kam der Fremde, er erholte sich gerade von einer langen Ausschweifung, die Hauptstraße der Stadt dahergetorkelt. Tom Hard saß auf einem Stuhl vor dem «New Willard House», seine damals fünf Jahre alte Tochter auf den Knien. Neben ihm auf dem Brettergehsteig saß der junge George Willard. Der Fremde ließ sich auf einen Stuhl neben ihnen fallen. Sein Körper zitterte, und als er sprach, bebte seine Stimme.
    Es war spät am Abend, und die Stadt und die Bahnstrecke, die am Fuß eines kleinen Hangs vor dem Hotel verlief, lagen im Dunkeln. Irgendwo in der Ferne Richtung Westen erscholl der anhaltende Stoß aus der Pfeife einer Personenlokomotive. Ein Hund, der an der Straße geschlafen hatte, erhob sich und bellte. Der Fremde begann zu brabbeln, und er machte eine Prophezeiung hinsichtlich des Kindes, das in den Armen des Agnostikers lag.
    «Ich bin hergekommen, um mit dem Trinken aufzuhören», sagte er, und Tränen liefen ihm über die Wangen. Er blickte Tom Hard nicht an, sondern saß vornübergebeugt da und starrte in das Dunkel, als
hätte er eine Vision. «Ich bin aufs Land geflüchtet, um Heilung zu finden, aber ich bin nicht geheilt. Das hat einen Grund.» Er wandte sich dem Kind zu, das nun kerzengerade auf des Vaters Knie saß und den Blick erwiderte.
    Der Fremde fasste Tom Hard am Arm. «Der Alkohol ist nicht meine einzige Sucht», sagte er. «Es gibt noch eine andere. Ich bin ein Liebender und habe meine Liebe nicht gefunden. Das ist ein wichtiger Punkt, wenn Sie genügend Ahnung haben, um zu erkennen, was ich meine. Das nämlich macht mein Verderben unausweichlich. Nur wenige verstehen das.»
    Der Fremde verstummte und schien von Trauer überwältigt, doch dann schreckte ihn ein weiterer Stoß aus der Pfeife der Personenlokomotive auf. «Ich habe den Glauben nicht verloren. Das erkläre ich hiermit. Ich bin nur an einen Ort gebracht worden, wo mein Glaube sich gewiss nicht verwirklichen wird», verkündete er heiser. Er stierte nun das Kind an und sprach zu ihm, ohne den Vater weiter zu beachten. «Es wird eine Frau kommen», sagte er, und seine Stimme war nun klar und ernst. «Ich habe sie vermisst, verstehst du. Sie ist zu meiner Zeit nicht gekommen. Du könntest diese Frau sein. Es wäre wie eine Fügung, einmal, an einem solchen Abend, da ich mich mit Alkohol zerstört habe, ihre Gegenwart erleben zu dürfen, und sie ist noch ein Kind.»
    Die Schultern des Fremden bebten heftig, und als er versuchte, sich eine Zigarette zu drehen, fiel ihm das Papier aus den zitternden Fingern. Er wurde zornig und schimpfte. «Die glauben, es sei leicht, eine Frau
zu sein, geliebt zu werden, aber ich weiß es besser», erklärte er. Erneut wandte er sich an das Kind. «Ich verstehe es», rief er aus. «Vielleicht verstehe ich es als Einziger von allen Männern.»
    Sein Blick schweifte über die im Dunkeln liegende Straße. «Ich weiß von ihr, obwohl sie nie meinen Weg gekreuzt hat», sagte er leise. «Ich weiß von ihren Kämpfen und ihren Niederlagen. Und wegen ihrer Niederlagen ist sie für mich meine Liebe. Aus ihren Niederlagen ist eine neue weibliche Eigenschaft entstanden. Ich habe dafür einen Namen. Ich nenne sie Tandy. Den Namen habe ich mir ausgedacht, als ich noch ein wahrer Träumer war und bevor mein Körper widerwärtig wurde. Es ist die Eigenschaft, stark zu sein, um geliebt zu werden. Und das brauchen Männer von Frauen, und sie bekommen es nicht.»
    Der Fremde erhob sich und stellte sich vor Tom Hard hin. Sein Körper wankte vor und zurück, und es war, als wollte er gleich umfallen, doch stattdessen fiel er auf dem Gehsteig auf die Knie und hob die Hände des kleinen Mädchens an seine betrunkenen Lippen. Er küsste sie ekstatisch. «Sei Tandy, meine Kleine», flehte er. «Wage es, stark und mutig zu sein. Das ist der Weg. Wage alles. Sei tapfer genug, um zu wagen, geliebt zu werden. Sei etwas, was mehr ist als Mann oder Frau. Sei Tandy.»
    Der Fremde richtete sich auf und torkelte auf der Straße davon. Ein paar Tage später bestieg er einen Zug und kehrte zu seinem Haus in Cleveland zurück. An jenem Sommerabend nach dem Gespräch vor dem Hotel brachte Tom Hard das kleine Mädchen zu einer
Verwandten, die sie eingeladen hatte, die Nacht bei ihr zu verbringen. Als er in dem Dunkel unter den Bäumen dahinging, vergaß

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