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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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einer Frau gefallen war. Ganz schwindelig im Kopf ging er hinab auf die Kanzel und hielt eine lange Predigt ohne auch nur einen Gedanken an seine Gebärden oder seine Stimme. Die Predigt erweckte wegen ihrer Kraft und Klarheit ungewöhnliche Aufmerksamkeit.«Ob sie wohl auch zuhört, ob meine Stimme wohl eine Botschaft in ihre Seele trägt», dachte er und hoffte, dass er an künftigen Sonntagen Worte finden würde, welche die Frau, in heimlicher Sünde offenbar weit fortgeschritten, berühren und erwecken konnten.
    Das Haus neben der presbyterianischen Kirche, durch dessen Fenster sich dem Pfarrer dieser Anblick bot, der ihn derart verstört hatte, wurde von zwei Frauen bewohnt. Tante Elizabeth Swift, eine graue, tüchtig wirkende Witwe mit Vermögen auf der «Winesburg National Bank», lebte dort mit ihrer Tochter Kate Swift, einer Lehrerin. Die Lehrerin war dreißig Jahre alt und hatte eine hübsche, schlanke Figur. Sie hatte
nur wenige Freundinnen und stand in dem Ruf, über eine scharfe Zunge zu verfügen. Als er über sie nachdachte, fiel Curtis Hartman ein, dass sie in Europa gewesen war und zwei Jahre in New York gelebt hatte. «Vielleicht hat es ja auch gar nichts zu bedeuten, dass sie raucht», dachte er. Er erinnerte sich, dass er während seines Studiums am College gelegentlich auch Romane gelesen hatte und in einem Buch, das ihm einmal in die Hände gefallen war, gute, wenn auch etwas weltliche Frauen viele Seiten hindurch geraucht hatten. Mit frischer Entschlossenheit arbeitete er die ganze Woche an seiner Predigt und vergaß in seinem Eifer, die Ohren und die Seele dieser neuen Zuhörerin zu erreichen, seine Verlegenheit auf der Kanzel ebenso wie die Notwendigkeit des Gebets am Sonntagmorgen in seinem Studierzimmer.
    Pfarrer Hartmans Erfahrungen mit Frauen waren eher begrenzt. Er war der Sohn eines Stellmachers aus Muncie, Indiana, und hatte das College durchlaufen. Die Tochter des Unterwäschefabrikanten hatte in einem Haus logiert, in dem er während seiner Collegezeit wohnte, und nach förmlichem und ausgedehntem Werben, das überwiegend von dem Mädchen selbst betrieben wurde, hatte er sie geheiratet. Am Tag der Hochzeit hatte der Unterwäschefabrikant seiner Tochter fünftausend Dollar geschenkt und ihr versprochen, ihr in seinem Testament mindestens das Doppelte zu vermachen. Der Pfarrer hatte sich glücklich verheiratet gewähnt und sich nie einen Gedanken an andere Frauen gestattet. Vielmehr wollte er still und ernst Gottes Werk verrichten.
    In der Seele des Pfarrers regte sich ein Zwist. Wollte er anfangs nur Kate Swifts Ohren erreichen und durch seine Predigten sich in ihre Seele senken, so wollte er zunehmend auch noch einmal die Gestalt sehen, wie sie weiß und ruhig im Bett lag. Früh an einem Sonntagmorgen, als er wegen seiner Gedanken nicht mehr schlafen konnte, stand er auf und spazierte durch die Straßen. Nachdem er die Main Street entlang fast bis zum alten Richmond’schen Haus gegangen war, blieb er stehen, hob einen Stein auf und eilte zurück in den Raum im Glockenturm. Mit dem Stein durchschlug er eine Ecke des Fensters, versperrte dann die Tür, setzte sich vor die aufgeschlagene Bibel und wartete. Als die Jalousie am Fenster von Kate Swifts Zimmer hochgerollt wurde, konnte er durch das Loch genau auf ihr Bett blicken, doch sie war nicht da. Auch sie war aufgestanden und spazieren gegangen, und die Hand, die die Jalousie hochgerollt hatte, war die Tante Elizabeth Swifts gewesen.
    Der Pfarrer weinte fast vor Freude ob dieser Erlösung von der fleischlichen Lust des «Guckens» und wandte sich wieder seinem eigenen Haus zu, um Gott zu preisen. In einem schlechten Augenblick vergaß er jedoch, das Loch im Fenster zu verstopfen. Das Stück Scheibe, das aus der Ecke herausgebrochen war, zwickte genau die nackte Ferse des Jungen ab, der reglos dastand und Christus mit verzücktem Blick ins Gesicht starrte.
    An jenem Sonntagmorgen vergaß Curtis Hartman das Predigen. Er sprach zu seiner Gemeinde und sagte in seiner Ansprache, es sei ein Fehler, wenn Leute ihren
Pfarrer für einen abgehobenen Mann hielten, den die Natur dazu bestimmt habe, ein makelloses Leben zu führen. «Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass wir, die wir das Werkzeug von Gottes Wort sind, den gleichen Versuchungen ausgesetzt sind, die euch bedrängen», erklärte er. «Ich bin versucht worden und bin der Versuchung erlegen. Allein die Hand Gottes hat sich unter meinen Kopf gelegt und mich erhoben. Wie er mich

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