Winesburg, Ohio (German Edition)
er die brabbelnde Stimme des Fremden, und er wandte sich wieder dem Ersinnen von Argumenten zu, mit denen er den Glauben der Menschen an Gott zerstören könnte. Er sprach den Namen seiner Tochter aus, und da begann sie zu weinen.
«Ich will nicht so genannt werden», erklärte sie. «Ich möchte Tandy genannt werden – Tandy Hard.» Das Kind weinte so bitter, dass es Tom Hard anrührte und er versuchte, sie zu trösten. Er blieb unter einem Baum stehen, nahm sie in die Arme und streichelte sie. «Nun sei aber artig», sagte er in scharfem Ton, doch sie ließ sich nicht beruhigen. Mit kindlicher Hemmungslosigkeit überließ sie sich dem Kummer, und ihre Stimme durchbrach die Abendstille auf der Straße. «Ich will Tandy sein. Ich will Tandy sein. Ich will Tandy Hard sein», rief sie, schüttelte den Kopf und schluchzte, als genügte ihre junge Kraft nicht, um die Vision auszuhalten, die die Worte des Betrunkenen ihr eingegeben hatten.
DIE KRAFT GOTTES
Pfarrer Curtis Hartman stand der presbyterianischen Kirche von Winesburg vor, eine Stellung, die er schon zehn Jahre innehatte. Er war vierzig Jahre alt und dem Wesen nach sehr schweigsam und zurückhaltend. Predigen, vor den Menschen auf der Kanzel stehen fiel ihm immer schwer, und von Mittwochmorgen bis Samstagabend dachte er an nichts anderes als an die zwei Predigten, die am Sonntag gehalten werden mussten. Sonntag früh ging er in einen kleinen, Studierzimmer genannten Raum im Glockenturm der Kirche und betete. In seinen Gebeten gab es eine Wendung, die stets hervorstach. «Gib mir die Kraft und den Mut für Dein Werk, o Herr!», flehte er, während er auf dem nackten Boden kniete und angesichts der Aufgabe, die vor ihm lag, den Kopf neigte.
Pfarrer Curtis Hartman war ein hochgewachsener Mann mit braunem Bart. Seine Ehefrau, eine kräftige, nervöse Frau, war die Tochter eines Unterwäschefabrikanten aus Cleveland, Ohio. Der Pfarrer war in der Stadt recht beliebt. Die Kirchenältesten mochten ihn, weil er still und unprätentiös war, und Mrs White, die Bankiersfrau, fand ihn gelehrt und kultiviert.
Die presbyterianische Kirche wahrte ein wenig Distanz von den anderen Winesburger Kirchen. Sie war
größer und imposanter, und ihr Pfarrer war besser bezahlt. Er besaß sogar eine eigene Kutsche, und an Sommerabenden fuhr er manchmal mit seiner Frau in der Stadt umher. Über die Main Street fuhr er und die Buckeye Street auf und ab, neigte gravitätisch den Kopf vor den Leuten, während seine Frau, insgeheim von Stolz entbrannt, ihn aus den Augenwinkeln ansah und sich sorgte, das Pferd könnte Angst bekommen und durchgehen.
Nach seiner Ankunft in Winesburg lief es etliche Jahre gut für Curtis Hartman. Er gehörte nicht zu denen, die unter den Gläubigen in seiner Kirche schiere Begeisterung entfachten, andererseits machte er sich auch keine Feinde. Tatsächlich war er sehr ernst und litt manchmal unter längeren Reueperioden, weil er das Wort Gottes nicht in den Straßen und Gassen der Stadt verkünden konnte. Er fragte sich, ob die Flamme des Geistes auch wirklich in ihm brannte, und träumte von einem Tag, an dem ein mächtiger, frischer, neuer Kraftstrom gleich einem großen Wind in seine Stimme und seine Seele führe und die Menschen vor dem in ihm offenbarten Geist Gottes zitterten. «Ich bin ein armer Stockfisch, und das wird mir nie geschehen», grübelte er niedergeschlagen, und dann erhellte ein geduldiges Lächeln seine Züge. «Ach, ich mache es vielleicht doch ganz gut», setzte er philosophisch hinzu.
Der Raum im Glockenturm der Kirche, in dem der Pfarrer sonntags früh um eine Steigerung der Macht Gottes in ihm betete, hatte nur ein Fenster. Es war lang und schmal und schwang an einem Scharnier nach außen wie eine Tür. Das Fenster, das aus kleinen bleigefassten
Scheiben bestand, zeigte ein Bild von Christus, wie er einem Kind die Hand auf den Kopf legt. Eines Sonntagmorgens im Sommer, der Pfarrer saß im Zimmer an seinem Schreibtisch, vor ihm war eine große Bibel aufgeschlagen und die Blätter seiner Predigt lagen verstreut herum, sah er zu seiner Bestürzung im oberen Zimmer des Nachbarhauses eine Frau im Bett liegen und eine Zigarette rauchend ein Buch lesen. Curtis Hartman schlich auf Zehenspitzen ans Fenster und schloss es leise. Bei der Vorstellung einer rauchenden Frau packte ihn Entsetzen, und er erzitterte bei dem Gedanken, dass sein Blick, nachdem er ihn vom Buch Gottes erhoben hatte, auf die bloßen Schultern und den weißen Hals
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