Winesburg, Ohio (German Edition)
Willard verließ Enoch Robinsons Zimmer. Aus dem Dunkel am Fenster hörte er, als er durch die Tür ging, die dünne alte Stimme jammern und klagen. «Ich bin allein hier, ganz allein», sagte die Stimme. «In meinem Zimmer war es warm und freundlich, aber jetzt bin ich ganz allein.»
EIN ERWACHEN
Belle Carpenter hatte dunkle Haut, graue Augen und dicke Lippen. Sie war groß und kräftig. Wenn sie düstere Gedanken überfielen, wurde sie wütend und wünschte, sie wäre ein Mann und könnte mit den Fäusten jemanden schlagen. Sie arbeitete in Mrs Kate McHughs Hutsalon, und tagsüber saß sie hinten im Geschäft an einem Fenster und putzte Hüte. Sie war die Tochter Henry Carpenters, eines Buchhalters in der «First National Bank» von Winesburg, und wohnte mit ihm in einem düsteren alten Haus am äußersten Ende der Buckeye Street. Das Haus war von Kiefern umstanden, und unter den Bäumen wuchs kein Gras. Eine rostige Dachrinne aus Blech hatte sich hinten am Haus aus ihrer Verankerung gelöst, bei Wind schlug sie gegen das Dach eines kleinen Schuppens und machte ein trübseliges Trommelgeräusch, das manchmal die ganze Nacht anhielt.
Als sie noch ein junges Mädchen war, machte Henry Carpenter Belle das Leben beinahe unerträglich, doch als sie sich vom Mädchen zur Frau entwickelte, verlor er die Macht über sie. Das Leben des Buchhalters setzte sich aus unzähligen kleinen Belanglosigkeiten zusammen. Wenn er morgens zur Bank ging, trat er in ein Schrankzimmer und zog einen schwarzen Alpakamantel
an, der mit der Zeit schäbig geworden war. Abends, wenn er nach Hause zurückkam, legte er einen anderen schwarzen Alpakamantel an. Jeden Abend bügelte er seine Straßenkleidung. Zu diesem Zweck hatte er eine Vorrichtung aus Brettern erfunden. Die Hose seines Straßenanzugs wurde zwischen die Bretter gelegt, diese wurden mit schweren Schrauben zusammengepresst. Morgens wischte er die Bretter mit einem feuchten Tuch ab und stellte sie aufrecht hinter die Esszimmertür. Wurden sie während des Tages bewegt, war er sprachlos vor Zorn und fand erst nach einer Woche wieder zur Ausgeglichenheit.
Der Bankkassierer war ein kleiner Tyrann und fürchtete sich vor seiner Tochter. Sie kannte, wie ihm bewusst wurde, die Geschichte seiner brutalen Behandlung ihrer Mutter und hasste ihn deswegen. Eines Tages ging sie mittags heim, klaubte eine Handvoll weichen Matschs von der Straße auf und nahm ihn mit ins Haus. Mit dem Matsch beschmierte sie die Oberseite der Bretter, auf der die Hose gepresst wurde, und kehrte dann glücklich und erleichtert wieder zur Arbeit zurück.
Ab und an ging Belle Carpenter abends mit George Willard spazieren. Insgeheim liebte sie einen anderen, doch ihre Liebesaffäre, von der niemand wusste, bereitete ihr viel Sorge. Sie liebte Ed Handby, Barmann in Ed Griffiths Saloon, und mit George Willard traf sie sich sozusagen zur Linderung ihrer Gefühle. Sie fand nicht, dass ihre Stellung im Leben es ihr gestattete, in Gesellschaft des Barmanns gesehen zu werden, und so spazierte sie mit George Willard unter den Bäumen
und ließ sich von ihm küssen, um eine Sehnsucht zu lindern, die sich in ihrem Wesen sehr hartnäckig hielt. Sie spürte, dass sie den jungen Mann in Schranken halten konnte. Bei Ed Handby war sie da etwas unsicher.
Handby der Barmann war ein hochgewachsener, breitschultriger Bursche von dreißig Jahren, der ein Zimmer über Griffiths Saloon bewohnte. Seine Fäuste waren groß und seine Augen ungewöhnlich klein, seine Stimme aber war, als suchte sie die machtvollen Fäuste zu verschleiern, sanft und leise.
Mit fünfundzwanzig hatte der Barmann von einem Onkel in Indiana eine große Farm geerbt. Beim Verkauf erbrachte die Farm achttausend Dollar, die Ed in einem halben Jahr ausgab. Er ging nach Sandusky am Eriesee und feierte eine Orgie der Verschwendung, deren Geschichte seine Heimatstadt später mit tiefem Respekt erfüllte. Hier und da verschleuderte er sein Geld, fuhr mit Kutschen durch die Straßen, gab für Massen von Männern und Frauen Weingesellschaften, spielte Karten um hohe Einsätze und hielt sich Mätressen, deren Garderobe ihn Hunderte von Dollar kostete. Eines Nachts geriet er in einem Badeort namens Cedar Point in eine Schlägerei und lief wie ein Wilder Amok. Mit der Faust zerbrach er im Waschraum eines Hotels einen großen Spiegel, zerschlug später noch in einigen Tanzlokalen die Fenster und zerbrach die Stühle aus reiner Freude daran, das Glas auf den Boden prasseln
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