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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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und auch eines für Männer», murmelte er, in Betrachtung versunken. «Das Gesetz beginnt bei kleinen Dingen und breitet sich aus, bis alles erfasst ist. In jedem kleinen Ding muss Ordnung herrschen, an dem Ort, wo Männer arbeiten, in ihrer Kleidung, in ihren Gedanken. Ich selbst muss ordentlich sein. Dieses Gesetz muss ich lernen. Ich muss mit etwas Ordentlichem und Großem in Berührung gelangen, das durch die Nacht gleitet wie ein Stern. In meinem bescheidenen Rahmen
muss ich allmählich etwas lernen, muss etwas geben und mit dem Leben, mit dem Gesetz in Einklang sein.»
    George Willard blieb an einem Lattenzaun bei einer Straßenlampe stehen und begann am ganzen Leib zu zittern. Solche Gedanken, wie sie ihm gerade in den Kopf gekommen waren, hatte er noch nie gehabt, und er fragte sich, woher sie gekommen waren. Vorläufig erschien es ihm, als hätte eine Stimme außerhalb von ihm gesprochen, während er herumspazierte. Er war über seinen eigenen Geist erstaunt und erfreut, und als er dann weiterging, sprach er voller Inbrunst über diese Sache. «Aus Ransom Surbecks Billardsalon herauszukommen und solche Dinge zu denken», flüsterte er. «Es ist doch besser, allein zu sein. Würde ich wie Art Wilson reden, dann würden mich die Jungs verstehen, aber was ich hier gedacht habe, das verstünden sie nicht.»
    In Winesburg gab es wie in allen Städten Ohios vor zwanzig Jahren einen Bezirk, in dem die Tagelöhner wohnten. Da die Zeit der Fabriken noch nicht gekommen war, arbeiteten die Tagelöhner auf den Feldern oder in einem Bautrupp bei der Eisenbahn. Sie arbeiteten zwölf Stunden täglich und erhielten am Ende eines mühseligen Tages einen Dollar. Die Häuser, in denen sie wohnten, waren kleine, billig gebaute Holzdinger mit einem Garten hinten dran. Die etwas Wohlhabenderen unter ihnen besaßen Kühe und vielleicht auch ein Schwein, die in einem kleinen Schuppen am Ende des Gartens untergebracht waren.
    In eine solche Straße ging an dem klaren Januartag George Willard, den Kopf voller tönender Gedanken.
Die Straße war schwach erleuchtet, und stellenweise gab es keinen Gehsteig. Der vor ihm liegende Schauplatz hatte etwas, was seine ohnehin schon wache Phantasie erregte. Ein Jahr lang hatte er jeden freien Moment genutzt, um Bücher zu lesen, und nun kam ihm ganz deutlich eine Geschichte über das Leben in den Städten der alten Welt während des Mittelalters in den Sinn, sodass er mit einem eigenartigen Gefühl vor sich hin stolperte, als suchte er einen Ort auf, der Teil einer früheren Existenz war. Einem Impuls folgend bog er in eine kleine dunkle Gasse hinter den Scheunen, in der die Kühe und Schweine lebten.
    Eine halbe Stunde lang blieb er in der Gasse, roch den strengen Geruch von Tieren, die auf zu engem Raum untergebracht sind, und ließ seinen Geist mit den seltsamen neuen Gedanken spielen, die ihm da kamen. Gerade der widerliche Mistgestank in der klaren, reinen Luft förderte in seinem Gehirn etwas Berauschendes zutage. Die ärmlichen kleinen, von Kerosinlampen erhellten Häuser, der Rauch aus den Schornsteinen, der senkrecht in die klare Luft aufstieg, die grunzenden Schweine, die in billige Kattunkleider gehüllten Frauen, die in den Küchen Geschirr spülten, die Schritte von Männern, die aus den Häusern traten und in die Läden und Saloons an der Main Street gingen, die bellenden Hunde und die schreienden Kinder – das alles bewirkte, dass er sich, wie er so im Dunklen stand, von allem Leben seltsam abgetrennt und fern fühlte.
    Der erregte junge Mann, außerstande, das Gewicht der eigenen Gedanken zu tragen, bewegte sich nun
vorsichtig die Gasse entlang. Ein Hund fiel ihn an und musste mit Steinwürfen verjagt werden, ein Mann erschien in der Tür eines der Häuser und beschimpfte den Hund. George betrat ein leeres Grundstück, legte den Kopf zurück und schaute in den Himmel. Er fühlte sich durch das simple Erlebnis, das er durchlaufen hatte, unsagbar groß und erneuert, und in einer Art Gefühlsaufwallung hob er die Hände, stieß sie in das Dunkel über seinem Kopf und murmelte einige Worte. Der Wunsch, Worte auszusprechen, überwältigte ihn, und er sagte Worte ohne Sinn, ließ sie über die Zunge rollen und sprach sie aus, weil es mutige Worte waren, voller Bedeutung. «Tod», murmelte er, «Nacht, Meer, Furcht, Liebreiz.»
    George Willard verließ das leere Grundstück und stand wieder auf dem Gehsteig gegenüber den Häusern. Er fand, dass alle Leute in der kleinen Straße

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