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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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lang und sah im Tod jung und anmutig aus. Dem Jungen, ergriffen von einer seltsamen Laune, erschien er unsagbar reizvoll. Das Gefühl, dass der Leichnam vor ihm lebendig war, dass im nächsten Moment eine hübsche Frau aus dem Bett sprang und vor ihn trat, wurde so übermächtig, dass er die Spannung nicht ertragen konnte. Immer wieder streckte er die Hand aus. Einmal berührte er das weiße Tuch, das sie bedeckte, und hob es halb an, doch dann verließ ihn der Mut, und er ging wie Doktor Reefy aus dem Zimmer. Im Flur vor dem Zimmer blieb er stehen und zitterte so stark, dass er sich mit einer Hand an der Wand abstützen musste. «Das ist nicht meine Mutter. Das da drin ist nicht meine Mutter», flüsterte er bei sich, und wieder bebte sein Körper von Furcht und Ungewissheit. Als Tante Elizabeth Swift, die gekommen war, um über die Tote zu wachen, aus einem Nebenzimmer trat, legte er seine Hand in die ihre und schluchzte und schüttelte den Kopf, vor Kummer halb blind. «Meine Mutter ist tot», sagte er, dann vergaß er die Frau und starrte auf die Tür, aus der er gerade getreten war. «Die Liebe, die Liebe, oh, die Allerliebste», murmelte der Junge laut wie unter einem ihm äußerlichen Drang.
    Die achthundert Dollar, welche die Tote so lange versteckt gehalten hatte und welche George Willard
seinen Neubeginn in der Stadt ermöglichen sollten, lagen in dem Blechkasten hinterm Putz am Fuß des Betts seiner Mutter. Elizabeth hatte sie eine Woche nach ihrer Heirat dort hineingesteckt, dabei den Putz mit einem Stock herausgebrochen. Dann ließ sie die Wand von einem der Arbeiter reparieren, die ihr Mann zu der Zeit im Hotel beschäftigte. «Ich bin mit der Ecke des Betts dagegen gestoßen», hatte sie ihrem Mann erklärt, in dem Moment außerstande, ihren Traum von der Erlösung aufzugeben, der Erlösung, die sie dann doch nur zweimal in ihrem Leben fand, nämlich in den Momenten, da ihre Liebhaber Tod und Doktor Reefy sie in den Armen hielten.

ERFAHRENHEIT
    Es war früher Abend an einem Tag im Spätherbst, und der Winesburger Bezirksjahrmarkt hatte Scharen von Landvolk in die Stadt gelockt. Der Tag war klar gewesen, und die Nacht ließ sich warm und angenehm an. Auf dem Trunion Pike, wo sich die Straße, nachdem sie die Stadt verlassen hatte, zwischen Beerenfeldern hinzog, die jetzt mit trockenen braunen Blättern bedeckt waren, erhoben sich Staubwolken von vorbeifahrenden Wagen. Kinder, zu kleinen Kugeln eingerollt, schliefen auf Stroh, das auf die Pritschen gestreut war. Ihre Haare waren voller Staub, ihre Finger schwarz und klebrig. Der Staub wallte über die Felder, und die scheidende Sonne entzündete ihn mit Farben.
    Auf der Hauptstraße von Winesburg füllten Leute die Geschäfte und Gehsteige. Die Nacht brach herein, Pferde wieherten, die Verkäufer in den Geschäften rannten wie toll herum, Kinder gingen verloren und schrien munter, eine amerikanische Stadt arbeitete gewaltig an der Aufgabe, sich zu amüsieren.
    Der junge George Willard drängte sich durch die Massen auf der Main Street, drückte sich dann in den Treppeneingang, der zu Doktor Reefys Praxis führte, und schaute den Leuten zu. Mit fiebrigem Blick betrachtete er die Gesichter, die unter den Ladenlampen
vorbeitrieben. Unablässig kamen ihm Gedanken in den Kopf, doch er wollte nicht denken. Ungeduldig stampfte er auf die Holzstufen und sah sich aufmerksam um. «Bleibt sie denn den ganzen Tag bei ihm? Habe ich die ganze Zeit umsonst gewartet?», murmelte er.
    George Willard, der Junge aus der Kleinstadt in Ohio, wuchs rasch zum Mann heran, und neue Gedanken waren ihm in den Sinn gekommen. Den ganzen Tag war er in dem Gedränge des Volksfests umhergelaufen und hatte sich einsam gefühlt. Er stand im Begriff, Winesburg zu verlassen und in eine größere Stadt zu gehen, wo er hoffte, Arbeit bei einer Zeitung zu bekommen, und er fühlte sich erwachsen. Die Stimmung, die von ihm Besitz ergriffen hatte, war Männern bekannt, Jungen dagegen nicht. Er fühlte sich alt und ein wenig müde. In ihm erwachten Erinnerungen. Sein neues Gefühl von Reife macht ihn in seiner Vorstellung zu etwas Besonderem, zu einer fast tragischen Gestalt. Er wollte, dass jemand das Gefühl verstand, das nach dem Tod seiner Mutter von ihm Besitz ergriffen hatte.
    Im Leben eines jeden Jungen gibt es eine Zeit, da er zum ersten Mal den Blick zurück auf sein Leben richtet. Vielleicht ist das der Moment, in dem er die Schwelle zum Mannsein überschreitet. Der Junge geht durch

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