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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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Junge! Der Junge! Der Junge!», flehte sie, während sie mit aller Kraft die Arme des Liebhabers abwehrte, den sie so inbrünstig gesucht hatte.
     
    Elizabeth starb an einem Tag im März des Jahres, in dem George achtzehn wurde, und der junge Mann hatte nur eine geringe Vorstellung von der Bedeutung ihres Todes. Nur die Zeit konnte sie ihm geben. Einen Monat lang hatte er sie weiß und still und sprachlos in ihrem Bett liegen sehen, und dann hielt ihn eines Nachmittags der Arzt im Flur an und sagte ein paar Worte.
    Der junge Mann ging auf sein Zimmer und schloss die Tür. Er hatte ein eigenartiges Gefühl der Leere in der Magengegend. Einen Moment lang saß er da, den Blick zu Boden gerichtet, dann sprang er auf und ging spazieren. Er lief den Bahnsteig entlang und durch Wohnstraßen, vorbei am Gebäude der Highschool und dachte fast ausschließlich über eigene Angelegenheiten nach. Die Vorstellung vom Tod berührte ihn nicht, er war sogar ein wenig verärgert, dass seine Mutter an dem Tag gestorben war. Er hatte gerade einen Brief von
Helen White erhalten, der Tochter des Bankiers der Stadt, es war die Antwort auf einen von ihm. «Heute Abend hätte ich sie sehen können, und nun wird es verschoben werden müssen», dachte er fast zornig.
    Elizabeth starb an einem Freitagnachmittag um drei Uhr. Am Vormittag war es kalt und regnerisch gewesen, am Nachmittag aber kam die Sonne heraus. Vor ihrem Tod hatte sie sechs Tage lang gelähmt dagelegen, unfähig, zu sprechen oder sich zu rühren, nur ihr Verstand und die Augen lebten noch. An drei der sechs Tage kämpfte sie, dachte an ihren Jungen, versuchte, ihm ein paar Worte bezüglich seiner Zukunft zu sagen, und in ihren Augen lag ein so anrührendes Flehen, dass sich alle, die es sahen, die Erinnerung an die sterbende Frau noch auf Jahre bewahrten. Selbst Tom Willard, der seiner Frau immer ein wenig gegrollt hatte, vergaß seinen Groll, und Tränen liefen ihm aus den Augen und blieben in seinem Schnauzer hängen. Der Schnauzer war schon grau geworden, und Tom färbte ihn. Das Präparat, das er dafür benutzte, enthielt Öl, und die Tränen, die sich in dem Schnauzer fingen und von seiner Hand weggewischt wurden, bildeten einen feinen, nebelartigen Dunst. In seinem Kummer sah Tom Willards Gesicht aus wie das eines kleinen Hundes, der lange bei rauem Wetter draußen gewesen war.
    Am Tag des Todes seiner Mutter lief George im Dunkeln über die Main Street nach Hause, und nachdem er auf sein Zimmer gegangen war, um sich Haare und Kleidung zu bürsten, ging er durch den Flur in das Zimmer, in dem der Leichnam lag. Auf der Kommode bei der Tür stand eine Kerze, und auf einem Stuhl am
Bett saß Doktor Reefy. Der Arzt erhob sich und wollte schon hinaus. Er streckte die Hand aus, als wollte er den jüngeren Mann begrüßen, und zog sie verlegen wieder zurück. Die Luft in dem Zimmer war schwer von der Anwesenheit der zwei befangenen Menschen, und der Mann eilte davon.
    Der Sohn der Toten setzte sich auf einen Stuhl und schaute zu Boden. Wieder dachte er über seine eigenen Angelegenheiten nach und beschloss endgültig, sein Leben zu ändern und Winesburg zu verlassen. «Ich gehe in eine Stadt. Vielleicht bekomme ich ja eine Stellung bei einer Zeitung», dachte er, und dann wandten sich seine Überlegungen dem Mädchen zu, mit dem er den Abend hatte verbringen wollen, und wieder war er fast zornig über den Verlauf der Ereignisse, der verhindert hatte, dass er sie aufsuchte.
    In dem matt erhellten Raum mit der Toten machte sich der junge Mann Gedanken. Er spielte mit Gedanken ans Leben, so wie seine Mutter mit dem Gedanken an den Tod gespielt hatte. Er schloss die Augen und stellte sich vor, dass die roten jungen Lippen Helen Whites die seinen berührten. Sein Körper zitterte, und seine Hände bebten. Und dann geschah etwas. Der Junge sprang auf und stand starr da. Er blickte auf die Gestalt der Toten unter dem Tuch, Scham ob seiner Gedanken überkam ihn, und er begann zu weinen. Ein neuer Gedanke kam ihm in den Sinn, und schuldbewusst schaute er sich um, als fürchtete er, beobachtet zu werden.
    George Willard war besessen von dem Wahn, das Tuch vom Leichnam seiner Mutter zu nehmen und
ihr Gesicht zu betrachten. Der Gedanke, der ihm gekommen war, hielt ihn unbarmherzig gepackt. Er gewann die Überzeugung, dass in dem Bett vor ihm nicht seine Mutter, sondern jemand anderes lag. Die Überzeugung war so echt, dass sie fast unerträglich wurde. Der Leichnam unter dem Tuch war

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