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Winslow, Don

Winslow, Don

Titel: Winslow, Don Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tage der Toten
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ein weiteres
Mal ab.
    Er lässt das Gewehr fallen, dreht sich um und läuft ostwärts Richtung
Second Avenue.
    Das Blut im Rinnstein fließt hinter ihm her.
     
    Nora hört die Schreie.
    Die Tür wird aufgestoßen.
    Der Oberkellner kommt herein, schreiend, draußen sei jemand erschossen
worden. Nora steht auf, alle stehen auf, aber sie wissen nicht, warum. Wissen
nicht, ob sie losrennen sollen oder bleiben, wo sie sind.
    Dann kommt Sal Scachi und sagt es ihnen.
    »Alle hiergeblieben«, sagt er. »Jemand hat den Boss ermordet.«
    Wen?, fragt sich Nora. Welchen Boss?
    Jetzt übertönt das Jaulen der Sirenen alles andere, doch sie zuckt hoch,
als sie das Ploppen des Champagnerkorkens hört.
    Das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Und alle starren auf Johnny Boy, der
einfach sitzen geblieben ist und sich Champagner einschenkt.
     
    Ein Auto wartet an der Ecke.
    Die hintere Tür öffnet sich, und Callan steigt ein. Das Auto biegt östlich
in die 56th Street ein,
fährt zum FDR Drive, Richtung Norden. Auf dem Rücksitz liegen frische Sachen.
Callan zieht seine nassen Klamotten aus und zwängt sich in die trockenen. Die
ganze Zeit bleibt der Fahrer stumm, fädelt sich geschickt durch den dichten
Verkehr.
    Bis jetzt läuft alles nach Plan, denkt Callan. Bellavia und Calabrese
hatten geglaubt, am Schauplatz eines Verbrechens aufzutauchen, ihren
ermordeten Kumpan vorzufinden, waren vorbereitet gewesen auf Heulen und
Zähneknirschen und den Jammerschrei: Und wir waren gekommen, um für
Frieden zu sorgen!
    Doch Sal Scachi und die Familie hatten andere Pläne.
    Wer dealt, der stirbt. Aber wer nicht dealt, stirbt erst recht, denn Geld
und Macht hat der, der dealt. Und wer den anderen Familien alles Geld und alle
Macht überlässt, begeht langsam, aber sicher Selbstmord. Das war Scachis
Überlegung, und sie war korrekt.
    Also musste Calabrese gehen.
    Und Johnny Boy musste Boss werden.
    »Das ist so mit den Generationen«, hat ihm Scachi erklärt. »Das Alte muss
dem Neuen weichen.«
    Natürlich dauert es eine Weile, bis sich die Wogen glätten.
    Johnny Boy wird jede Beteiligung leugnen, weil ihm die Vorstände der
anderen vier Familien, oder was von ihnen übrig ist, niemals erlaubt hätten,
ohne ihre Einwilligung zu handeln, und ihre Einwilligung hätten sie niemals
gegeben. (»Ein Boss«, hat Scachi ihn belehrt, »sanktioniert niemals die
Beseitigung eines anderen Bosses.«) Also wird Johnny Boy geloben, dass er die Schweinehunde,
die seinen Boss umgelegt haben, zur Strecke bringt, und es wird noch ein paar
widerborstige Calabrese-Getreue geben, die ihrem Boss in die nächste Welt
folgen müssen, aber am Ende werden sich die Wogen glätten.
    Johnny Boy wird sich widerstrebend zum neuen Boss küren lassen.
    Die anderen Bosse werden ihn akzeptieren. Und der Kokain-Nachschub wird
wieder klappen. Reibungslos. Von Kolumbien über Honduras und Mexiko bis nach
New York.
    Wo es endlich wieder eine weiße Weihnacht geben wird.
    Aber nicht für mich, denkt Callan.
    Er öffnet die Segeltuchtasche auf dem Boden.
    Wie vereinbart, hunderttausend Dollar in bar, ein Pass, Flugtickets, Sal
Scachi hat an alles gedacht. Ein Ausflug nach Südamerika und ein neuer Job.
    Das Auto biegt ab auf die Auffahrt zur Triborough Bridge.
    Selbst bei diesem Regen kann Callan die Skyline von Manhattan erkennen.
Irgendwo da drüben, denkt er, hat sich mein Leben abgespielt. Hell's Kitchen,
Sacred Heart, das Liffey, das Landmark, Glocca Morra, der Hudson.
Michael Murphy, Kenny Mäher, Eddie Friel. Dann Jimmy Boylan, Larry Moretti und
Matty Sheehan.
    Und jetzt Tommy
Bellavia und Paulie Calabrese. Als lebende Gespenster bleiben zurück - Jimmy
Peaches. Und O-Bop. Siobhan.
    Er blickt zurück auf Manhattan, aber er sieht die Wohnung vor sich. Wie
Siobhan am Samstagvormittag an den Frühstückstisch kommt. Mit
trockengerubbelten Haaren, ohne Make-up, und so schön. Wie sie dasitzt, über
ihrem Kaffee und der Zeitung, die meist ungelesen bleibt, und auf den grauen
Hudson und die Skyline von Jersey hinausblickt.
    Callan ist mit Mythen aufgewachsen.
    Cuchulain, Edward Fitzgerald, Wolfe Tone, Roddy McCorley, Pádraic Pearse, James
Connelly, Sean South, Sean Barry, John Kennedy, Bobby Kennedy, Bloody Sunday, Jesus Christus.
    Und alle enden sie blutig.
     
    DRITTER TEIL
     
    Die NAFTA
     
    8 Die Tage der unschuldigen Kinder
     
    Auf dem Gebirge hat man ein
Geschrei gehört, viel Klagens, Weinens und Heulens; Rahel beweinte ihre Kinder
und wollte sich nicht trösten lassen, denn

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