Winslow, Don
Salvadorianer gehören entweder zum
Hotelpersonal oder zur Geheimpolizei.
Geheimpolizei, denkt Keller, was für ein Paradox. Das einzig
Geheimnisvolle an den Geheimpolizisten ist, wie sie es schaffen, so sehr
aufzufallen. Ihre billigen Klamotten sind schlechte Imitationen dessen, was
die Oberschicht trägt, sie versuchen, wie Geschäftsleute auszusehen, doch sie
haben die braunen, wettergegerbten Gesichter von Campesinos. Kein Mitglied
der Vierzig Familien würde sich, ob geheim oder nicht, bei der Polizei verdingen,
daher wirken diese Kerle, die das Kommen und Gehen im Sheraton überwachen, wie
Bauern, die zur Hochzeit ihres städtischen Cousins eingeladen sind.
Aber die Geheimpolizei soll ja gar nicht unsichtbar sein, sagt sich
Keller, sie soll auffallen. Alle sollen wissen, dass der Große Bruder sie
beobachtet und alles registriert.
Ramos findet den
Polizisten, nach dem er gesucht hat. Sie ziehen sich zurück, um ihren Deal
auszuhandeln. Eine Stunde später sind Keller und Ramos auf dem Weg zu
dem Anwesen, wo sich Tío mit seiner Lolita versteckt.
Die Fahrt durch die Vorstädte von San Salvador ist lang und deprimierend.
Das Land hat die höchste Bevölkerungsdichte Mittelamerikas, und die Bevölkerung
wächst immer weiter, wie es scheint. Da, wo die Straße etwas breiter wird, wird
sie von Hütten und Verkaufsständen gesäumt - zusammengenagelt aus Pappe,
Wellblech oder Sperrholz oder einfach nur aus Zweigen -, und sie bieten alles
feil, was sich Leute, die wenig oder gar nichts haben, leisten können.
Verkäufer laufen dem Jeep entgegen, als sie den Gringo auf dem
Fahrersitz entdecken. Kinder drängen sich heran, betteln um Nahrung, Geld,
alles. Keller muss weiter.
Er muss zu diesem Anwesen durchkommen, bevor Tío wieder
verschwindet.
In El Salvador verschwinden ständig Leute.
Manchmal ein paar hundert in einer Woche. Werden von den Todesschwadronen
aufgegriffen und verschwinden. Wer zu viele Fragen stellt, verschwindet
ebenfalls.
Die Drittwelt-Slums sind alle gleich, denkt Keller. Überall dieser Schlamm
oder Staub, je nach Klima und Jahreszeit, überall der Gestank der
Holzkohlenfeuer und offenen Kloaken, überall der herzzerreißende Anblick von
Hungerkindern mit aufgetriebenen Bäuchen und riesigen Kulleraugen.
Das ist Welten entfernt von Guadalajara, wo ein breiter und relativ
wohlhabender Mittelstand die Kluft zwischen Arm und Reich überbrückt. In San
Salvador gibt es das nicht, sagt er sich, hier stoßen die Slums direkt an die
glitzernden Hochhäuser - wie die Hütten der mittelalterlichen Bauern an die
Burgmauern. Nur dass die Burgmauern jetzt von privaten Wachdiensten mit automatischen
Gewehren und Maschinenpistolen beschützt werden. Und in der Nacht verlassen die
Wachmänner die Burgen, schwärmen aus über die Dörfer - im Jeep, nicht zu
Pferde - und schlachten die Bauern ab, lassen die Toten mitten auf den
Kreuzungen oder Marktplätzen liegen, vergewaltigen und töten Frauen, erschießen
Kinder vor den Augen ihrer Eltern.
Damit die Überlebenden wissen, wo ihr Platz ist.
Ein Mörderland, denkt Keller.
El Salvador.
Der Erlöser - welch ein Hohn.
Das Anwesen liegt in einem Jacarandenhain, dreihundert Meter vom Strand
entfernt.
Hinter der stacheldrahtbewehrten Mauer ein Bungalow und Nebengebäude für
die Bediensteten. Ein kräftiges Holztor und ein Pförtnerhäuschen sichern die
Zufahrt.
Keller und Ramos hocken dicht an der Mauer, dreißig Meter vom Tor entfernt.
Im Schatten des Vollmonds.
Ein Dutzend salvadorianische Einsatzkräfte sind im Abstand um die Mauer
postiert.
Erst nach turbulenten Verhandlungen haben sich die Salvadorianer zur
Kooperation bereit erklärt, aber nun ist alles geregelt: Sie können sich
Barrera holen, ihn in die US-Botschaft bringen und nach New Orleans ausfliegen,
wo man ihn wegen Mordes und Verschwörung in Verbindung mit illegaler
Verbreitung von Drogen vor Gericht stellen wird.
Ein verschreckter Immobilienhändler, mitten in der Nacht aus dem Bett
geholt und in sein Büro gebracht, übergibt dem Einsatzkommando den Grundriss
des Anwesens. Der Mann wird isoliert, bis der Einsatz vorüber ist. Keller und Ramos nehmen sich den
Grundriss vor und entwerfen einen Plan. Alles muss sehr schnell gehen - bevor
Barreras Freunde in der mexikanischen Regierung Wind von der Sache kriegen -,
und es muss reibungslos ablaufen. Ohne Aufsehen und Krawall und vor allem ohne
salvadorianische Opfer.
Keller schaut auf die Uhr - noch drei Minuten bis fünf.
Die
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