Winslow, Don
Leute stehen geduldig Schlange, bringen den Alten und Kindern zu
essen, helfen anderen beim Wasserschleppen, beim Aufbauen von Zelten und
Unterständen, beim Graben von Latrinen. Leute, die noch eine Wohnung haben,
bringen Decken, Töpfe, Pfannen, Essen, Kleidung.
Eine Frau
bringt Nora Jeans und ein Flanellhemd.
»Nehmen Sie.«
»Das kann ich
nicht annehmen.«
»Es wird kalt.«
Nora nimmt die Sachen. »Danke. Gracias. «
Hinter einem Baum zieht sie sich um. Niemals haben sich Sachen so gut angefühlt.
Das Flanell schmiegt sich wärmend an ihre Haut. Sie hat ganze Schränke voller
Sachen zu Hause, denkt sie, das meiste davon nur ein- oder zweimal getragen.
Jetzt würde sie einiges geben für ein Paar Socken. Sie hat gewusst, dass die
Stadt sehr hoch liegt, aber jetzt in der Kälte der Nacht spürt sie es auch. Sie
fragt sich, wie es den Menschen unter den Trümmern ergeht, ob auch sie die
Kälte spüren.
Nachdem sie sich gestärkt hat, bindet sie sich das Tuch wieder vor und
geht zurück zur Ruine ihres Hotels. Kniet sich neben einen Mann mittleren
Alters und hilft ihm beim Wegräumen von Schutt.
Parada durchschreitet
die Hölle.
Überall wüten Feuer. Frisch genährt aus zerbrochenen Gasleitungen,
erhellen sie die stygische Finsternis jenseits der ausgebrannten Ruinen. Der
beißende Rauch, der würgende Gestank nach Verwesung, nach verbranntem Fleisch,
auch nach Fäkalien, denn die Kanalisation ist verstopft.
Es wird immer schlimmer, während er weitergeht und auf Kinder trifft, die
umherirren und weinend nach ihren Eltern rufen. Manche in Unterwäsche oder
Schlafsachen, andere in Schuluniform. Im Vorbeigehen sammelt er sie ein. Einen
kleinen Jungen trägt er auf dem Arm, ein Mädchen hält er bei der Hand, und das
Mädchen hält ein anderes Kind an der Hand, das wieder ein anderes Kind an der
Hand hält - und so geht es weiter.
Als er zum Alameda-Park kommt, hat er mehr als zwanzig Kinder um sich
versammelt. Er sucht nach dem Zelt der katholischen Rettungsstelle.
Dort fragt er einen Monsignore: »Haben Sie Antonucci gesehen?«
Kardinal Antonucci meint er, den päpstlichen Nuntius, den höchsten
Vertreter des Papstes in Mexiko.
»Der liest die Messe in der Kathedrale.«
»Die Stadt braucht jetzt keine Messe«, sagt Parada. »Wir brauchen
Strom und Wasser, Lebensmittel, Blutkonserven und Blutplasma.«
»Die geistlichen Belange der Gemeinde -«
»Si, si, si, si«, sagt Parada und läuft
weiter. Er muss nachdenken, seine Gedanken
ordnen. Es gibt so viel zu organisieren, so viele Menschen mit so vielen Nöten.
Er holt seine Zigarettenschachtel heraus und will sich eine anstecken.
Eine scharfe Stimme aus dem Dunklen lässt ihn zusammenzucken. Eine
Frauenstimme. »Machen Sie das Feuer aus! Sind Sie verrückt?«
Er pustet das Streichholz aus. Knipst seine Taschenlampe an und leuchtet
die Frau an. Ein wirklich hübsches Gesicht, trotz Ruß und Staub.
»Die Gasleitungen«, sagt sie. »Wollen Sie uns in die Luft sprengen?«
»Es brennt doch überall«, sagt er.
»Wollen Sie, dass es hier auch brennt?«
»Nein, sicher nicht«, sagt Parada. »Sie sind Amerikanerin.«
»Ja.«
»Da sind Sie aber schnell gewesen.«
»Ich war schon hier, als es losging«, sagt sie.
»Ah.«
Er mustert sie von oben bis unten. Etwas längst Vergessenes regt sich in
ihm. Die Frau ist klein, aber sie hat etwas von einer Kriegerin. Sie will
kämpfen, weiß nur nicht, wogegen und wie.
Genauso wie ich, denkt er und streckt ihr die Hand entgegen.
»Juan Parada. «
»Nora.«
Einfach Nora.
Kein Nachname. »Wohnen Sie in Mexico City, Nora?«
»Nein, ich bin
geschäftlich hier.«
»Welche Art von
Geschäft?«
Sie blickt ihm
direkt in die Augen. »Ich bin ein Callgirl.«
»Bitte? Ich
verstehe nicht -«
»Eine
Prostituierte.«
»Ah.«
»Und Sie?«
Er lächelt.
»Ich bin Priester.«
»Sie sind nicht
gekleidet wie ein Priester.«
»Und Sie nicht
wie eine Prostituierte«, erwidert er. »Eigentlich ist es noch viel schlimmer.
Ich bin Bischof. Erzbischof.«
»Ist das etwas
Besseres als Bischof?«
»Wenn Sie nach dem Rang urteilen«, sagt er. »Als Pfarrer war ich
glücklicher.«
»Warum werden
Sie es dann nicht wieder?«
Wieder lächelt er. »Ich wette, Sie sind ein sehr erfolgreiches Callgirl.«
»Stimmt«, sagt Nora. »Und ich wette, Sie sind ein sehr erfolgreicher
Erzbischof.«
»Eigentlich
denke ich eher ans Aufhören.«
»Warum?«
»Ich weiß
nicht, ob ich noch glaube.«
Nora zuckt die
Schultern. »Dann tun Sie
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