Winslow, Don
nicht«, sagt der Priester. »Und Zehntausende Obdachlose.«
Das ist ein Argument, denkt Parada. Die Lebenden gehen vor. »Sobald ich hier fertig
bin«, sagt er.
Sie lässt sich nicht helfen.
Eine Menge Leute versuchen es - Polizisten, Sanitäter -, aber Nora will
sich nicht verarzten lassen.
»Ihr Arm, Señorita, Ihr Kopf -«
»Unsinn«, sagt sie. »Vielen hier geht es viel schlechter.« Mir tut alles
weh, denkt sie, aber es geht mir gut. Komisch, sagt sie sich, gestern hätte ich
noch gedacht, das ist ein Widerspruch. Ihr Arm tut weh, ihr Kopf tut weh, ihr
Gesicht fühlt sich an wie nach einem schlimmen Sonnenbrand, aber es geht ihr
gut.
Sie ist voller Kraft. Schmerzen?
Ach was! Hier sterben Menschen. Sie will keine Hilfe, sie will helfen.
Also setzt sie sich hin und polkt vorsichtig die Glassplitter aus ihrem
Arm, dann spült sie ihn an einem geborstenen Wasserrohr ab. Reißt einen Ärmel
von dem Leinenpyjama ab, den sie noch immer trägt (und ist froh, dass sie
lieber Leinen trägt anstelle der feinen Seide), umwickelt ihren Arm. Dann
reißt sie den anderen Ärmel ab und bindet sich Mund und Nase zu, um sich vor
dem Staub und dem Rauch zu schützen - und dem Geruch ...
Dem Geruch des Todes.
Wer ihn nicht kennt, hat keine Vorstellung davon. Doch wer ihm
ausgeliefert war, vergisst ihn nie wieder.
Sie zieht den Knoten fester und macht sich auf die Suche nach
irgendwelchen passenden Schuhen. Das ist nicht allzu schwer, denn das Warenhaus
hat seinen Inhalt praktisch auf die Straße gekippt. Dass sie sich ein Paar
Flipflops aneignet, wertet sie nicht als Plünderei (geplündert wird hier nicht
- trotz der verbreiteten Armut unter der Stadtbevölkerung). Sie schließt sich
einem Helfertrupp an, der in den Trümmern des Hotels nach Überlebenden sucht.
Es gibt Hunderte von diesen Trupps, Tausende freiwillige Helfer, die sich
überall in der Stadt durch die eingestürzten Häuser arbeiten, mit Schaufeln,
Spitzhacken, Eisenstangen und bloßen Händen, um zu den Verschütteten
vorzustoßen. Sie tragen die Toten und Verletzten hinaus, in Decken, Laken,
Duschvorhängen, und tun alles, um den hoffnungslos überforderten Rettungsteams
zu helfen. Andere Freiwillige sind damit beschäftigt, die Straßen freizuräumen,
befahrbar zu machen für Krankenwagen und Feuerwehren. Feuerwehrhubschrauber
seilen Männer über brennenden Gebäuden ab, damit sie Menschen retten können,
die von unten nicht zu erreichen sind.
Aus den Radiolautsprechern tönen die Namen der Toten und der Überlebenden
- eine endlose Litanei, begleitet von Klagelauten und Freudengeheul.
Es gibt noch andere Geräusche. Stöhnen, Jammern, Beten, Schreien,
Hilferufe - Stimmen, die aus den Ruinen kommen. Die Stimmen der Verschütteten.
Also suchen die Helfer weiter, stumm und erschöpft. Neben Nora arbeitet
ein Trupp Pfadfindermädchen - kaum älter als neun Jahre, denkt Nora beim
Anblick ihrer ernsten, entschlossenen Mienen. So jung - und tragen schon das
Gewicht der Welt. Auch die Pfadfinderjungen, Fußballmannschaften, Bridgeclubs
oder Einzelpersonen wie Nora schließen sich zusammen.
Ärzte und Krankenschwestern, die wenigen, die nach dem Einsturz der Krankenhäuser
noch im Einsatz sind, durchsuchen die Trümmer mit Stethoskopen, versenken sie
in die Hohlräume, um nach Lebenszeichen zu forschen. Wenn sie so weit sind,
bitten die Helfer lautstark um Ruhe, Motoren und Martinshörner werden
abgeschaltet, alle werden still. Dann kann es sein, dass der Arzt lächelt oder
nickt, und die Mannschaften rücken an, um schnell, aber behutsam Schutt,
Steine, Beton und Stahlträger beiseitezuräumen - manchmal mit dem Ergebnis,
dass tatsächlich ein Mensch lebend aus den Trümmern geborgen wird, oft aber
geht es traurig aus - sie kommen nicht schnell genug voran und finden nur noch
einen leblosen Körper.
So oder so, sie arbeiten weiter.
Den ganzen Tag und die ganze Nacht.
In der Nacht legt Nora eine Pause ein. Bei der Rettungsstelle im Park
bekommt sie eine Tasse Tee und eine Scheibe Brot. Der Park ist voll von
Menschen, die obdachlos geworden sind, und solchen, die aus Angst vor Nachbeben
lieber draußen übernachten. Er ähnelt jetzt einem gewaltigen Flüchtlingslager
- was er ja auch ist, denkt Nora.
Befremdend daran ist nur die Stille. Die Radios sind leise gedreht, die
Menschen flüstern ihre Gebete, sprechen mit gedämpfter Stimme, wenn sie mit
ihren Kindern reden. Es gibt keinen Streit, kein Gedränge, keinen Kampf um die
knappen Vorrä te. Die
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