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Winslow, Don

Winslow, Don

Titel: Winslow, Don Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tage der Toten
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nur
»Hilfe!«
    Wieder und
wieder. So laut sie kann. Irgendwann Sirenen, Schritte im Geröll über ihr.
»Hilfe!«
    Ein Klopfen, dann: »Donde estas?«
    » Direkt hier!«, schreit sie, überlegt kurz, dann: »Aquú« Jetzt hört und spürt sie, wie über ihr Schutt weggeräumt wird. Kommandos,
Warnungen. Sie streckt die Hand nach oben, so weit sie kann. Eine Sekunde
später die unglaubliche Wärme einer Hand, die nach ihr greift. Sie fühlt sich
hochgezogen, herausgezogen, und dann, wundersamerweise, steht sie im Freien.
Na ja, so gut wie. Über ihr ragt noch eine Art Gewölbe. Wände und Säulen neigen
sich in irren Winkeln. Wie in einem Ruinenmuseum.
    Ein Bergungsarbeiter stützt sie, betrachtet sie neugierig.
    Dann riecht sie etwas, einen widerlich süßen Geruch. Mein Gott, was ist
das?
    Ein Funke bringt das Gas zur Explosion.
    Nora hört einen scharfen Knall, ein dumpfes Dröhnen, das ihr Herz stocken
lässt, und sie schlägt der Länge nach hin. Als sie aufblickt, ist überall
Feuer. Als würde die Luft brennen, sich als Feuerwalze auf sie zubewegen.
    Die Männer schreien. »Vamonos! Ahorita!«
    Schnell weg!
    Einer packt sie wieder am Arm und schiebt sie vor sich her, sie rennen.
Flammen überall, brennende Trümmerteile fallen herab, sie hört knisternde
Geräusche, es riecht verbrannt, ein Mann schlägt ihr auf den Kopf, und sie
merkt, dass ihre Haare brennen, aber sie spürt es nicht. Der Ärmel des Mannes
fängt Feuer, er schiebt sie trotzdem weiter, und plötzlich sind sie unter
freiem Himmel, sie will sich fallen lassen, aber der Mann erlaubt es nicht, er
stößt sie weiter vor sich her, denn hinter ihnen stürzen die Überreste des
Hotel Regis in sich zusammen.
    Zwei andere Männer schaffen es nicht. Sie zählen zu den 128 Helden, die beim Versuch, Verschüttete zu retten, ihr Leben ließen.
    Nora weiß das noch nicht, als sie über die Avenida Benito Juárez stolpert, in
die relative Sicherheit des Alameda-Parks. Sie sinkt in die Knie, während ihr
eine Verkehrspolizistin einen Mantel über den Kopf wirft und das Feuer
erstickt.
    Nora schaut zurück. Das Hotel Regis ist ein brennender Trümmerhaufen. Das
Kaufhaus Salinas y Rocha nebenan sieht aus wie mittendurch geschnitten. Rote, grüne, weiße Wimpel,
die Dekorationen des Unabhängigkeitstags, flattern über der entkernten Hülse
des Gebäudes. Soweit ihr Blick die Staubwolken durchdringt, sind die Häuser
eingestürzt oder geborsten, die Straßen übersät mit riesigen Trümmerstücken,
Beton und Stahlträgern.
    Und überall Menschen.
    Sie knien im Park und beten.
    Der Himmel ist schwarz von Rauch und Staub.
    Die Sonne ist verfinstert, und ringsum hört Nora den gleichen Satz: »El fin
del mundo.«
    Der Weltuntergang.
    Noras rechte Kopfhälfte ist schwarz verschmort, ihr linker Arm blutet und
ist voller winziger Glassplitter. Und während der Schock abklingt, setzen die
Schmerzen ein.
     
    Parada kniet über den
Toten.
    Verabreicht ihnen posthum die Sterbesakramente.
    Eine lange Reihe von Toten hat er noch vor sich. Fünfundzwanzig Leichen,
notdürftig verhüllt mit Decken, Tischtüchern, Handtüchern - allem, was sich
fand. Sie liegen aufgereiht vor der eingestürzten Kathedrale, während
Verzweifelte in den Trümmern nach ihren Angehörigen suchen, unter den alten
Steinen wühlen, in der Hoffnung auf Lebenszeichen.
    Unablässig murmelt Parada die lateinischen Gebetsformeln, aber in seinem
Herzen ...
    Etwas ist in ihm zerbrochen, zerrissen wie die Erde bei diesem Beben. Ein
Grabenbruch hat sich zwischen mir und Gott aufgetan, denkt er.
    Das kann er den Leuten nicht sagen - es wäre grausam. Sie erwarten von
ihm, dass er die Seelen ihrer Angehörigen gen Himmel schickt. Er darf sie nicht
enttäuschen, nicht jetzt, auch später nicht. Die Menschen brauchen Hoffnung,
und die darf ich ihnen nicht nehmen. Ich bin nicht so grausam wie Du, denkt er.
    Also spricht er seine Gebete. Salbt die Toten mit Öl und fährt mit den
Sakramenten fort.
    Von hinten naht ein Priester. »Padre Juan?«
    »Sie sehen doch, ich hab zu tun.«
    »Sie werden gebraucht, in Mexico City.«
    »Ich werde hier gebraucht.«
    »Es gibt Anweisungen, Padre Juan.«
    »Anweisungen von wem?«
    »Vom päpstlichen Nuntius«, sagt der Priester. »Es werden alle einbestellt,
damit die Hilfe organisiert werden kann. Sie haben schon Erfahrungen damit,
daher -«
    »Ich habe hier Dutzende von Toten zu -«
    »Es gibt Tausende von Toten in Mexico City.«
    »Tausende?«
    »Genaue Zahlen haben wir

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