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Winter

Winter

Titel: Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Marsden
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wie gedruckt.
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    Der Aussichtspunkt übertraf meine Erwartungen. Um ihn zu errichten, hatte hier jemand vor langer Zeit eine Menge Arbeit investiert. Ein ganzer Abschnitt des Steilhangs war verstärkt und mit Felsen aufgestockt worden, und zwar so, dass es natürlich aussah. Dafür mussten mehrere Leute monatelang geschuftet haben. Vom höchsten Punkt aus waren von der weiten und bis über Christie hinausreichenden Ebene aber nur noch vereinzelte Schimmer zu sehen, denn inzwischen waren die Bäume so hoch gewachsen, dass sie die Aussicht fast vollständig verdeckten.
    Trotzdem blieb ich ein paar Minuten stehen und sah mir die Aussicht an. Mag sein, dass das merkwürdig war, denn ich stand ja im Begriff, zum ersten Mal seit zwölf Jahren meinen Eltern nahe zu sein, aber ich war einfach zu nervös und auf einmal gar nicht mehr sicher, ob ich wirklich so viel Mut hatte, wie ich dachte. Bei meiner Rückkehr nach Warriewood war das hier nicht eingeplant gewesen. Bis vor anderthalb Stunden hatte ich ja nicht einmal gewusst, dass es diesen Ort, den Aussichtspunkt, gab, und schon gar nicht, dass sie hier begraben waren.
    Dann geschah jedoch etwas Seltsames. Als ich mich umdrehte, um nach den Gräbern zu suchen, wusste ich instinktiv, wo sie sich befanden. Ich wandte mich nach rechts, hielt mich ungefähr in einem 45-Grad-Winkel zum Aussichtspunkt und stapfte durch Gebüsch und Gras und dichtes Unterholz einen kleinen Hang hinauf. Auf einer schmalen Lichtung am höchsten Punkt fand ich sie. Meine Eltern lagen unter einem riesigen SchwarzholzEukalyptus, dessen dunkler Stamm wie eine Trauersäule aussah. Die Gräber selbst waren von Unkraut überwuchert und mit Rinde und Reisig bedeckt. Es hätte mir nichts ausgemacht, wenn sie von einheimischen Pflanzen und kleinen Wildblumen bewachsen gewesen wären, aber dieses Zeug war reinstes Unkraut, voller Dornen und potthässlich. Jedes der beiden Gräber hatte einen eigenen Grabstein. Ich strich die hohen Halme vor dem linken zur Seite und las die verwitterte Inschrift: In liebendem Gedenken an Phillip Edward De Salis, geboren am 15. Mai 1945, gestorben durch Ertrinken am 27. Dezember 1988. Der Herr gibt und der Herr nimmt.
    Zum ersten Mal erfuhr ich ihren Todestag. Das war einer der Gründe gewesen, warum ich nach Warriewood zurückgekehrt war.
    Ich legte den zweiten Grabstein frei und las: In ewiger Erinnerung an Phyllis Antonia Rosemary De Salis, geboren am 12. November 1945, gestorben am 9. Juli 1989.
    Dieser Stein enthielt keinen Bibelvers. Wer auch immer meine Mutter begraben hatte, dürfte wohl den Glauben an Gott verloren haben, nachdem die beiden so kurz hintereinander gestorben waren.
    Ich hockte mich auf meine Fersen. Ich spürte einen Schock in der Wirbelsäule, der meinen Rücken hinauf wanderte und meine Haare im Nacken zu Berge stehen ließ. Sie waren nicht am gleichen Tag gestorben.
    Nicht am gleichen Tag. Unter meiner Haut kribbelte es, als stünde ich innerlich unter Strom. Das stimmte doch gar nicht. Ich hatte das ganz anders verstanden. Irgendwann musste ich alles schrecklich durcheinander gebracht haben.
    Ich stand auf, setzte mich mit dem Rücken an den Baum und starrte auf die Inschrift. Nicht am gleichen Tag. Meine Mutter hatte nach dem Tod meines Vaters noch über ein halbes Jahr gelebt. Dann war sie auch gestorben. Aber wie? Bei einem Unfall? Davon war keine Rede. Nur eines war sicher: Ertrunken war sie nicht. Sonst hätten sie das auch auf ihren Grabstein geschrieben, passend zum anderen.
    Wenn sie nicht ertrunken war, dann stimmte die Geschichte in meinem Kopf nicht, dann war alles, womit ich all die Jahre gelebt hatte, falsch. Dann war die Geschichte meines Lebens falsch. Dann hatte ich mein Leben auf einer Geschichte aufgebaut, die eine Lüge war.
    Ich ging sie in Gedanken noch einmal durch, versuchte dahinter zu kommen, wie sie zusammengebrochen sein konnte, wie es möglich war, dass ich in dieser Sackgasse gelandet war. Meine Eltern waren bei einem Segelbewerb ums Leben gekommen. Sie waren beim traditionellen Jachtrennen zwischen Sydney und Hobart in einen Sturm geraten und über Bord gegangen. Die Leichen fand man anderthalb Tage später. Das war die Wahrheit. Das war die Geschichte. Das hatten die Robinsons erzählt, wenigstens die paar Male, da sie überhaupt davon sprachen.
    Andererseits hatte ich mich nie so recht damit abgefunden. Da war immer schon ein Verdacht gewesen, er hatte in der Tiefe meines Bewusstseins rumort und war nie zur Ruhe

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