Winter
hat mir erzählt, dass du gestern bei den Gräbern warst.«
Bei Mr Carruthers konnte man sich darauf verlassen, dass er stets über mich im Bilde war.
»Ja. Seither weiß ich ja auch, dass sie erst viel später gestorben ist. Ich will aber trotzdem wissen, wie.«
»Winter, es war ein Unfall. Angeblich machte sie Schießübungen. Ich nehme an, du weißt, dass sie ein ausgezeichneter Scharfschütze, äh, Scharfschützin war. Soviel ich weiß, lehnte eines ihrer Gewehre an einem Fahrzeug. Ein Hund warf es um oder so ähnlich und es ging los. An die Details kann ich mich nicht erinnern. Es ist schon so lange her. Aber ich erinnere mich genau, dass sie auf der Stelle tot war.«
Ich starrte ihn fassungslos an. Das war doch unmöglich. Und je länger ich so dasaß, umso klarer wurde mir, dass ich es nicht glauben konnte. Echt und wahrhaftig nicht.
»Wie konnte sie ein geladenes Gewehr rumstehen lassen?«
»Keine Ahnung. Das kommt wohl vor.«
»Okay, ich mag vielleicht zwölf Jahre lang in der Stadt gelebt haben, aber sogar ich weiß, dass man ein geladenes Gewehr nirgends rumliegen lässt. Das ist, das ist wie…«, ich suchte nach dem passenden Vergleich, »das ist wie Alkohol am Steuer. Wie bei Rot über die Kreuzung fahren. Wie Öl ins Feuer gießen. Außerdem war meine Mutter eine erstklassige Schützin. Das ist unmöglich. Sie hätte niemals etwas so Dämliches getan.«
Mr Carruthers beugte sich mit ernstem Gesicht vor. »Im Gegenteil, Winter. Diese Dinge passieren immer so. Und sie passieren gerade Leuten wie deiner Mutter. Leuten mit zu viel Selbstvertrauen. Sie sind diejenigen, die das größte Risiko eingehen. Sie vergessen nämlich, dass nicht einmal sie unverwundbar sind.«
Es schien ihm furchtbar wichtig, mich zu überzeugen. Er hatte soeben vier Mal das Gleiche gesagt, damit die Botschaft auch wirklich ankam.
Mir fiel nichts ein, was ich darauf noch erwidern sollte. Ich wusste nicht, ob ich auf der richtigen Spur war oder ob ich nur daran festhalten wollte, dass ein solcher Unfall einfach nicht möglich war. Heute weiß ich, dass ich total unter Schock stand und die Vorstellung entsetzlich fand, dass sie womöglich so gestorben war. Ich bebte am ganzen Körper und musste mich zusammennehmen, damit das Zittern aufhörte.
Nach einer Weile hatte ich mich wieder einigermaßen unter Kontrolle. Um das Thema zu wechseln, fragte ich ihn: »Wie viel bekommen Ralph und Sylvia eigentlich bezahlt?«
Er sah mich verblüfft an. »Wie bitte?«
»Wie viel Geld bekommen sie aus dem Nachlass?«
»Das steht im Rechenschaftsbericht an das Gericht, in den Akten, die ich dir in den letzten Jahren mitgebracht habe. Einen Moment… ich sehe mal nach, ob ich einen dabei habe.«
Er kramte in seinem Aktenkoffer. Ich hatte ihn noch nie so aus der Fassung erlebt. Während er noch suchte, fragte er: »Darf ich wissen, warum du dich auf einmal für ihre Gehälter interessierst? Du musst selbstverständlich nicht antworten, ich bin bloß neugierig.«
»Nur so. Es interessiert mich einfach.«
Ich wusste, dass ihn diese Antwort nicht zufrieden stellen würde.
Er zog eine rote Mappe heraus, auf deren Deckel »Nachlass Warriewood« stand, und schlug sie rasch auf.
»Also, mal sehen… im letzten Geschäftsjahr, alles in allem 55.914 Dollar, also rund sechsundfünfzigtausend.«
»Plus das Haus?«
»Wie?«
Er hasste diese Art von Fragen.
»Bezahlen sie Miete für das Haus?«
»Ach so. Nein. Ich glaube nicht.«
»Sonst noch irgendwelche Vergünstigungen?«
»Nun, ihre Strom- und Wasserkosten werden aus dem Nachlass bezahlt. Ich denke, das hat damit zu tun, dass der gesamte Wasserverbrauch über ein Messgerät läuft und man den Verbrauch des Verwalters von den restlichen Gebäuden nicht trennen kann.«
»Ist Ihnen auf diesem Grundstück irgendetwas aufgefallen?«
»Äh, was willst du damit sagen?«
Wie auf Knopfdruck platzten auf einmal die Enttäuschungen und die Wut, die sich seit meiner Ankunft und sogar schon davor in mir aufgestaut hatten, aus mir heraus.
»Diese Leute bekommen tausend Kröten die Woche und das ist noch nicht einmal alles. Sehen Sie sich den Hof doch mal an! Schauen Sie sich doch um! Der Bach ist von den Brombeeren dermaßen überwuchert, dass man nicht mehr an ihn rankommt. Wenn auf diesem Grundstück was angebaut wird, dann Brombeeren! Sie sind überall. In den Gärten wächst irgend so ein ekelhaftes und klebriges Unkraut. Das krallt sich so fest, dass man einen Mikrochirurgen braucht, der es wieder entfernt. Egal, in welche
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