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Winter

Winter

Titel: Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Marsden
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Jessica – ich erinnere mich nicht genau, was
ihr Vater gesagt hat, aber studiert sie nicht Musik? Für eine
Viehwirtschaft nicht gerade die beste Empfehlung, oder?« »Ich weiß. Aber ich glaube, dass mir mein Nachbar Mr
Kennedy helfen wird.«
»Hm. Na gut, wenigstens haben wir uns über das Inserat
geeinigt. Fangen wir also damit an! Und in der Zwischenzeit
kannst du in dringenden Fällen ja einen Berater holen oder
einen Tierarzt. Obwohl das nicht gerade der billigste Weg ist.« Jedenfalls billiger als Ralph und Sylvia, dachte ich. Ich war froh, als er abfuhr. Ich winkte noch einmal, als der
große Toyota aus der Einfahrt bog, dann kehrte ich voller
Tatendrang zu den Brombeeren zurück.
16
    Bevor ich aus Canberra fortging, während der langen Bahnfahrt und unzählige Male seit meiner Rückkehr hatte ich mich immer wieder gefragt, ob ich die Anwesenheit meiner Eltern auf Warriewood spüren würde. Würden sie mich auf Schritt und Tritt verfolgen? Würden sie in der Nacht plötzlich erscheinen? Würden sie in meine Träume eindringen? Oder würden sie sich vielleicht als meine Schutzengel herausstellen, die mich vor Gefahren warnten? Und ob sie wohl glücklich darüber waren, dass ich wieder hier war? Das Seltsame war nur, dass ich sie mir oft zornig vorstellte, wie dunkle Gewitterwolken. Weshalb sie auf mich böse sein könnten, wusste ich nicht.
    In jener ersten Nacht auf dem Hof hatte ich tatsächlich etwas gespürt, etwas Lebendiges, eine Art von Energie, die aber nichts Gespenstisches hatte. Ich habe keine Ahnung, ob die Experten zwischen Gespenstern und Geistern unterscheiden, aber so wie ich die beiden Begriffe verstehe, war zwar der Geist meiner Eltern immer noch auf dem Hof, Gespenster gab es aber keine.
    Nach ein paar Wochen hatte ich aufgehört, über diese Dinge nachzudenken. Entsprechend groß war der Schock, als ich auf dem Weg zu einer Weide, auf der ich noch nicht gewesen war, plötzlich eine Kraft spürte, die so stark war, dass sie mir den Atem nahm. Und zwar buchstäblich. Als hätte ich einen heftigen Stoß in die Magengegend bekommen. Plötzlich schnappte ich nach Luft, blickte mich um, ob ein UFO gelandet war, und sog panisch den Sauerstoff in meine Lungen. Ich spürte eine entsetzliche Übelkeit und das dringende Verlangen nach Flucht. Ich meine, physisch.
    Während ich mich rückwärts gehend entfernte, ein ganzes Stück, vielleicht fünfzig Meter, starrte ich wie gebannt den Zaun an und dachte: Hier ist es passiert. Ich dachte es nicht nur, ich wusste es. Dann verwandelte sich diese Ahnung von einer psychischen Kraft in eine Erinnerung – sie tauchte in mir auf wie ein altes Foto, das zu lange an einer Wand gehangen hatte, wo es jahrelang von der Sonne beschienen worden und allmählich fast ganz verblasst war. Ich sah nur Schatten und blasse Flecken und ein paar undeutliche Bilder. Ich konzentrierte mich, um etwas zu erkennen. Es waren Gesichter, lauter Gesichter. Alte Gesichter. Zwei vor allem. In meiner Erinnerung sahen sie aus wie achtzig, aber in den Augen eines kleinen Kindes sehen wahrscheinlich alle Erwachsenen uralt aus. Sie starrten mich an. Es war grauenhaft. Als starrten und schrien sie und als wären sie furchtbar böse. Dann zerfielen sie wieder, lösten sich auf, zerbröselten wie ein Keks im Regen.
    Der Tag war klar und sonnig, aber in der Luft war keine Wärme mehr. Dafür war der Herbst schon zu weit fortgeschritten. Doch da, wo ich stand, schien die Erde im Schatten zu liegen, als wäre das Gras von einer schwarzen Haut überzogen. Ich entfernte mich noch weiter von der Stelle.
    Warriewood war für mich immer wunderschön gewesen. Als kleines Kind liebte ich es vermutlich auf diese alles akzeptierende Weise, wie das Kinder eben tun. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mich je fragte, ob sich mein Leben von dem anderer Kinder unterschied.
    Bevor mir noch richtig bewusst war, welches Glück ich hatte, war alles vorbei. Ich ging nach Canberra und verbrachte die nächsten zwölf Jahre damit, von Warriewood zu träumen und es in meiner Fantasie wieder auferstehen zu lassen. Ich war wie der Typ in einem Film, den ich einmal gesehen hatte: Er schnitt alles Mögliche aus einer Zeitschrift aus, Augen, Augenbrauen, eine Nase, ein Kinn, und versuchte verzweifelt das Gesicht einer Frau wiederherzustellen, der er ein einziges Mal begegnet war und die er wieder verloren hatte. Wenigstens hatte ich Fotos von Warriewood gehabt. Ralph und Sylvia und Mr Carruthers hatten mir in den

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