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Winter

Winter

Titel: Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Marsden
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Szene in meinem Kopf und in meinen Ohren wiederholte.
Dad sagte: »Ja, wen haben wir denn da? Solltest du nicht längst im Bett sein?«
»Ich hab Durst«, sagte ich.
»Na, das ist ja originell«, sagte Mum. »Bleib sitzen, Phillip. Ich hole es. Und du, Winter, bekommst jetzt einen Schluck Wasser und dann ab ins Bett, verstanden?«
In den vielen Nächten, in denen ich mich bei den Robinsons in den Schlaf geweint hatte, erlaubte ich mir höchstens ein ersticktes Schluchzen. Niemand durfte etwas davon erfahren. Deshalb waren die Tränen auch nur langsam und zögernd gekommen, als sickerten sie aus einem fest abgedrehten, aber dennoch undichten Wasserhahn.
Jetzt weinte ich anders. Ich weinte hemmungslos. Ich heulte wie eine Vierjährige, trauerte um die Eltern, die ich verloren hatte, um die Jahre, in denen ich ohne sie gewesen war, um die Eltern, die ich nie mehr wiedersehen würde. Mein ganzes Leben lag vor mir, und wie es aussah, würde es einsam werden.
Und trotzdem wollte ich nirgendwo sonst auf der Welt sein. Hier auf Warriewood würde ich die einzige Geborgenheit finden, auf die ich hoffen konnte. Das Gefühl, in diesem Haus zu sein, in meinem eigenen Zimmer im eigenen Bett zu liegen, diese Geräusche zu hören und die lebendige Präsenz meiner Familie von vor vielen Jahren zu spüren, war, als hielte mich meine Mutter in ihren Armen. Das würde mir mein Leben lang nicht mehr vergönnt sein, aber eine Ahnung davon zu haben, daran erinnert zu werden, schien mich in eine Zeit zurückzuversetzen, die zwölf Jahre lang außerhalb meines Bewusstseins gelegen hatte, jenseits des Territoriums, in dem ich gelebt hatte.
3
    Zum Glück war es ein schöner Morgen, als ich die Augen aufschlug, denn sonst wäre ich angesichts der kahlen Wände und verstaubten Fußböden wahrscheinlich ziemlich mutlos geworden. So aber strich ich mir die Haare aus dem Gesicht und ging ins Bad um zu sehen, ob es heißes Wasser gab. Die Mühe hätte ich mir sparen können. Es war eiskalt.
    Die Uhr zeigte kurz vor sieben. Ich schlüpfte in eine alte Militärhose und zog ein Sweatshirt an, das wir letztes Jahr für die Schulschlussfeier im Internat bedruckt hatten. Dann verließ ich das Haus durch die Vordertür, stieg den Hang hinab und überquerte die Einfahrt, auf der ich gestern Abend mit Ralph gekommen war. Der alte Brunnen war zwar noch da, aber ich erinnerte mich auch an die Statue einer Frau mit einem Regenschirm. Sie war verschwunden, hatte vielleicht ihren Regenschirm abgespannt und sich heimlich eine neue Bleibe gesucht, wo es ein Kind gab, das zu ihren Füßen im Wasser planschte und zwischen ihren Beinen nach Kaulquappen suchte.
    An den Ufern des Bachs wuchsen grüne gefiederte Farnblätter, die aber fast vollständig unter den überall wuchernden Brombeeren verschwanden. Die Brombeeren waren so dicht und allgegenwärtig, dass ich nicht einmal in die Nähe des vor sich hin plätschernden, murmelnden, gurgelnden und schäumenden Wassers kam. Dann entdeckte ich auf der anderen Seite einen Pfad. Er war zwar auch verwildert, aber ich suchte mir einen Weg an den zu Boden gegangenen Baumstämmen und den hohen Grasbüscheln vorbei.
    Die ganze Zeit spielte mir der leise trällernde Bach seine Musik vor. Das, so spürte ich immer stärker, war mein eigentlicher Willkommensgruß. Der Bach flüsterte mir zu: »Schön, dass du wieder da bist, Winter. Wir haben dich vermisst. Du gehörst hierher.«
    Nach vielleicht einem Kilometer schien sich der Fußpfad allmählich zu verlieren. Ein Abschnitt war fortgeschwemmt und dann verschwand er ganz im dichten Gestrüpp der Brombeerstauden. Nur wenige Meter zu meiner Linken befand sich jedoch ein Güterweg, eine schmale Piste, die dem Bach folgte. Also ging ich dort weiter und verscheuchte den Gedanken, dass ich mich langsam auf den Rückweg machen sollte.
    Der Morgen war einfach zu schön. Nach einer Weile fiel mir ein Lied ein, das ich erst vor kurzem von meiner Gesangslehrerin Mrs Scanelli gelernt hatte, und ich fing an zu singen.
    Ich wandere allein und einsam,
Den Blick nach vorne gewandt,
Den Weg kenn ich nicht, doch ich fürchte Nur das, was hinter mir liegt.
Ich weiß, an der nächsten Biegung Meines Lebens, irgendwo ganz nah, Find ich meine Zukunft im Dunkeln, Wenn nur mein Licht hell genug strahlt.
    Wenn ich singe, vergesse ich alles rundherum. Es gibt dann nur noch den Text und die Melodie und meine Stimme und mich. So war es auch, als ich den Weg weiterlief, der immer breiter und ebener wurde,

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