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Winter

Winter

Titel: Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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sich selbst, über Sternen, die ihren Sternen entgegensahen aus unendlicher Tiefe. Das alles war in ihr gespiegelt und von ihr über die Erde gehalten und schon kaum mehr gehalten: denn es war wie ein beständiges Überfließen von Himmeln.
    Ich dachte, es würde vielleicht eine Mitternachtsmette geben, und ging nach elf Uhr aus; die Gassen und Steige zwischen den Mauern lagen lang da, wie abgenommene hingebreitete Fahnentücher, schwarz-weiß, aus einem Streifen Mauerschatten neben einem Streifen Licht; denn es war die erste Nacht nach dem vollen Monde, und er stand ganz hoch im Himmel und überschien scharf alle die Sterne, so daß nur da und dort ein entfernter ganz großer so stark flackerte, daß etwas Dunkelheit um ihn entstand. Wie blendeten die beschienenen Mauerränder, wie war das Laub der Oliven ganz aus Nacht gemacht, wie ausgeschnitten aus Himmeln, älteren, nicht mehr benutzten Nachthimmeln. Und die Berghänge sahen so mondhaft verfallen aus und ragten aus den Häusern empor wie Unbewältigtes. Und die Häuser waren dunkel, und wo die Holzpersianen nicht vorgezogen worden waren, hatten die Fenster den fahlen, durchscheinenden Schein blinder Augen. Auf der kleinen Piazza endlich, unter dem Uhrturm, stand ein Haufen junger Capresen in Verabredung. Aus einem kleinen Kaffeehaus, das, rot verhangen, in die finsterste Ecke eingefügt war, kam dann und wann das ungeduldige Aufrasseln eines Tamburins. Ein Torbogen überspannte eine enge Gasse, die aufwärts führte, und griff ein Stück Himmel herein mit seiner Wölbung und hielt es ihr an. Ein Schritt in Holzschuhen klappte die Häuser entlang, die Uhr hob an und schlug das letzte Viertel vor Mitternacht. Aber die Kirche war zu, wie seit Jahrzehnten verschlossen.
Und was da fernher und doch eigentümlich durchdringend, von den Olivenhängen und aus den Weingärten herüber-klang, das war kein christliches Singen. Schwere Blumen, alter schwankender Klagen voll, langgezogen ohne Anfang, nicht als setzten sie plötzlich ein, nur: als würde das Ohr unvermutet eingeschaltet in ein immer dauerndes Tonhinhalten; Stimmen, wie wieder herausgeholt aus dem Gehör entlegener Berggesichter; Stimmen, die von selbst entstehen, als finge sich Nachtwind in der Seele eines Tieres; lange, schwere, schwankende Stimmen, Rufe und Rufreihen einer uralten Naturtrunkenheit, dumpf, unbewußt, mehr ertragen als gewollt, und dazwischen Gelächter, flammenhaft hervorbrechend und sich schnell verzehrend, kurz, wach und warm wie aus einer Sommernacht, und dann wieder Mondschein; Wege, Mauern, Häuser, eine Erde aus Mondschein, aus Mondschatten, die stille hält, während es seltsam bedeutungsvoll Neujahrsmitternacht schlägt, langsam Schlag auf Schlag legend: jeder ganz glatt, ganz ausgebreitet, faltenlos, als sollte er so aufbewahrt werden.
    Ich war wieder zu meinem kleinen Hause zurückgegangen und stand oben auf seinem Dach und wollte in dem allem ein gutes Ende sehen und einen guten Anfang in mir finden. Und nun wollen wir glauben an ein langes Jahr, das uns gegeben ist, neu, unberührt, voll nie gewesener Dinge, voll nie getaner Arbeit, voll Aufgabe, Anspruch und Zumutung; und wollen sehen, daß wirs nehmen lernen, ohne allzuviel fallen zu lassen von dem, was es zu vergeben hat, an die, die Notwendiges, Ernstes und Großes von ihm verlangen.
    â€¦ Guten Neujahrsmorgen …
    Briefe I (Clara Rilke, 1. 1. 1907), 159-161
    Sie schreiben, liebste Sidie, daß Sie im Januar auf alle Fälle still in Janowitz sein werden; mögen Sie Güte und Großmuth soweit treiben, mir zuzugeben, daß ich nichts bestimmen muß und doch, wenn ichs plötzlich beschließe, kommen darf, mich bei Ihnen zu verstecken? Ich verwöhne mich mit der Aufrechterhaltung dieser beiden Möglichkeiten (der leipziger und dieser), aber Paris ist so hart in seinen Anforderungen, daß ich mir augenblicklich die Freiheit dieser zwei Auswege, wenigstens dann und wann ganz im Stillen möchte vorstellen dürfen. Ja, auch ich kann mir einen Winter unter Ihrem Schutz sehr sehr gut denken, selbst in einer Zeit, wo ich so rücksichtslos, verstockt und verschwiegen mich zeigen würde wie diesmal, allein hinausliefe, unwirsch, und auf die schönsten Fragen keine Antwort gäbe. Mir wäre es recht jetzt, wie ohne Gesicht zu sein, ein zusammengerollter Igel, der sich nur am Abend im Straßengraben aufmacht

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