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Winter

Winter

Titel: Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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kleine, helle französische Stadt und sahen über einem Haufen kleiner, zusammengeschobener Häuser aus dem Gedränge einen Turm aufsteigen, der oben blühte von Gotik, und einen anderen wie eine Knospe von Gotik daneben. Dann gingen wir durch kleine Gassen, vergaßen, verloren alles wieder aus dem Gesicht, um plötzlich so nah davor gestellt zu sein, vor das Unübersehbare. Vieles, fast alles verdorben, nur da und dort ein Stück, wo es anfängt zu schauen, zu träumen, zu lächeln ins Unendliche hinein … Leider ist es sehr, sehr, sehr kalt, so daß man kaum stehen kann, und schneit. Wir denken an Dich … bald einmal sind wir vielleicht zusammen hier …
    Briefe I (Clara Rilke, 25. 1. 1906), 119
    Wir kamen müde heim, das Wetter war zu sehr wider uns, nach frischer Kälte Rauheit und dann Schnee und gleich darauf Tauwetter und Ostwind und Glatteis; alles an einem Tage, und gerade an diesem, und das ungangbarste Wetter für unseren Weg von der Station. So kamen wir müde an. Vielleicht auch, weil es doch traurig macht, all diesen Verfall zu sehen und diese schlimme Restaurierung, die noch unerträglicher ist als der Verlust eines schönen Dinges, in ihrer Starrheit und Härte und Häßlichkeit. Mir kommt Chartres noch viel zerstörter vor als die Notre-Dame von Paris. Viel hoffnungsloser; noch viel mehr denen, die zerstören, preisgegeben. Nur der erste Eindruck, wie das sich aufhebt, wie in einem großen Mantel, und dann das erste Detail, ein verwitterter schlanker Engel, der vor sich her eine Sonnenuhr hält, aufgeschlagen den ganzen Stundengang des Tages, und darüber sieht man, unendlich schön noch in seinem Vergehen, das tiefe Lächeln seines freudig dienenden Gesichts, wie Himmel, der sich spiegelt … Aber
das ist fast alles. Und der Meister ist der einzige (scheint es), zu dem das alles noch kommt und spricht. (Spräche es, denkt man, zu den anderen auch nur ein wenig, wie könnten, wie dürften sie's überhören?) Er war wie in Notre-Dame ruhig, eingeordnet, unendlich erkannt und empfangen. Leise von seiner Kunst sprechend und bestätigt in ihr, von den großen Grundsätzen, die sich ihm zeigen, wo er hinsieht. Und sehr schön war das; wir kamen von der Bahn gegen 1 / 2  10 zum Dom hin; die Sonne war nicht mehr da, es war grauer Frost, aber immer noch still. Als wir aber an die Kathedrale kamen, bog unerwartet ein Wind, wie jemand sehr Großer, um die Ecke des Engels und ging mit einer Unerbittlichkeit durch uns durch, scharf und zerschneidend. »O«, sagte ich, »nun erhebt sich auf einmal ein Sturm.« »Mais vous ne savez pas«, sagte der Meister, »il y a toujours un vent, ce vent-là autour des grandes Cathédrales. Elles sont toujours entourées d'un vent mauvais agité, tourmenté de leur grandeur. C'est l'air qui tombe le long des contreforts, et qui tombe de cette hauteur et erre autour de l'église …« So irgendwie sagte der Meister das, kürzer, etwas weniger ausgeführt, gotischer zugleich. Aber so etwa war der Sinn dessen, was er meinte. Und in diesem vent errant standen wir wie Verdammte im Vergleich zu dem Engel, der so selig sein Zifferblatt einer Sonne hinhielt, die er immer sah …
    Briefe I (Clara Rilke, 26. 1. 1906), 120 f.
    L'ange du Méridien
    Chartres
    Im Sturm, der um die starke Kathedrale
wie ein Verneiner stürzt der denkt und denkt,
fühlt man sich zärtlicher mit einem Male
von deinem Lächeln zu dir hingelenkt:
    lächelnder Engel, fühlende Figur,
mit einem Mund, gemacht aus hundert Munden:
gewahrst du gar nicht, wie dir unsre Stunden
abgleiten von der vollen Sonnenuhr,
    auf der des Tages ganze Zahl zugleich,
gleich wirklich, steht in tiefem Gleichgewichte,
als wären alle Stunden reif und reich.
    Was weißt du, Steinerner, von unserm Sein?
und hältst du mit noch seligerm Gesichte
vielleicht die Tafel in die Nacht hinein?
    Werke I , 497
    Es giebt fallende Sterne auch jetzt, vor drei Tagen, da ich sehr bedrückt ausging, stürzte einer, herrlich, über der engen Gasse. Auf mich wirkts immer ungeheuer und geht mir durchs Leben, weil's ein Fall ist in der Form einer Bahn, ein Sturz, der, indem er geschieht, begreift, daß es kein ›Unten‹ giebt im göttlichen Raum: daher dieser Stolz plötzlich im Verlauf, diese Großmuth, diese reine Besinnung.
    Und das hat man, wie in

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